Sophie Junge: Kunst gegen das Verschwinden. Strategien der Sichtbarmachung von AIDS in Nan Goldins Ausstellung Witnesses: Against our Vanishing, Berlin: De Gruyter 2015, 384 S., zahlr. Farb- u. s/w-Abb., ISBN 978-3-11-035984-8, EUR 89,95
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Die Kunsthistorikerin Sophie Junge legt mit "Kunst gegen das Verschwinden. Strategien der Sichtbarmachung von AIDS in Nan Goldins Ausstellung 'Witnesses: Against Our Vanishing'" eine Analyse der zweiten Generation akademischer Auseinandersetzung mit "Kunst über AIDS" vor. Im etwas langen Titel der Doktorarbeit Junges (2013) war "Bedeutung künstlerischer Auseinandersetzung mit AIDS" noch nicht mit "Strategien" ersetzt worden.
1989 kuratierte Goldin im New Yorker Artists Space die im Buchtitel genannte erste Gruppenausstellung zum Thema AIDS, in der mehrheitlich Fotografien gezeigt wurden. Unter den 25 Künstlern und Künstlerinnen mit knapp 100 Werken sind David Wojnarowicz, Kiki Smith und Mark Morrisroe heute die bekanntesten. Wojnarowicz verfasste auch einen Katalogbeitrag, der in Kombination mit den Werken der kurzen Ausstellung großes Medienecho bescherte.
Morrisroe und Wojnarowicz starben jung an AIDS, ihr Œuvre wird bis heute mit der Krankheit assoziiert. Kiki Smith und Goldin, die auch Aids um 1990 thematisierten, gehören heute zum Kunstkanon, auch weil sie überlebten und noch andere Werke schufen, so Junge (33-34). Gehören nicht Keith Haring und Robert Mapplethorpe trotz frühem AIDS-Tod zum Kanon?
Bei Künstlern, die noch nicht lange genug tot sind, etwa Joseph Beuys, Francis Bacon oder Haring, überwiegt zunächst eine oft etwas einseitige Rezeption der "Wir haben ihn / sie noch gekannt"-Fraktion, im Fall Junges sind es die damaligen Aids-Aktivisten. Kunst, die Aids thematisiert, wurde und wird laut Junge meist von (alten) Aids-Aktivisten ausgestellt, welche die Bilder für ihren Aktivismus instrumentalisier(t)en: "So sind Bilder der Epidemie bis heute nicht frei verfügbar, sondern agieren als Sprecher einer bestimmten sozialen Gruppe." Gibt es überhaupt "freie" Bilder, die nicht vereinnahmt werden?
Die Heterogenität von Werken, die sich mit Aids auseinandersetzten, begründet Junge auch folgendermaßen: "Die Epidemie brach mit einer Plötzlichkeit über die Kunstszene in New York herein, dass keine Zeit blieb, eine gemeinsame Bildsprache zu entwickeln." (38) Diese Aussage unterschätzt Künstler. Die Ausstellung im Zentrum der Arbeit war Ende 1989. Bereits Mitte der 1980er war AIDS ein Thema in vieler Munde. In ein paar Jahren lässt sich sehr wohl eine Bildsprache entwickeln, man denke nur an die kurzlebigen klassischen Avantgarden.
Junges Verständnis von "Kunst über AIDS" sei offener als das etwa von Rob Baker (1994), der nur von "gay representations of AIDS in the arts" ausging. Für die Autorin verband vielmehr "einzig die persönliche Betroffenheit von AIDS" (38) die Künstler und Künstlerinnen unter diesem "Label Kunst über AIDS" (38). Doch was ist "persönliche Betroffenheit von AIDS"? Selbst-Aids-Haben oder mit Identifizierten befreundet sein? Gehört etwa Ai Weiweis New Yorker Frühwerk "Safe Sex" (1986), das heute hinsichtlich seiner Auseinandersetzung mit Aids verortet wird, auch dazu? Oder kannte er zu wenig Infizierte persönlich? Junges Begrifflichkeit, gerade wenn sie als Kontrast verwendet wird, bleibt hier unklar. Gibt es die "rein kunsthistorischen" (39) Untersuchungsmethoden überhaupt, die Junge mit kunstsoziologischen Fragestellungen erweitern möchte?
Anhand der Ausstellungsanalyse und sechs Interviews mit New Yorker Künstlern und Künstlerinnen und Kuratoren (darunter Kiki Smith) werden in Junges mit dem Deubner-Preis des Verbandes Deutscher Kunsthistoriker ausgezeichneter Dissertation neue Erkenntnisse zur künstlerischen, sozialen und politischen Bedeutung von Kunst über AIDS in den USA der späten 1980er-Jahre vermittelt. Schade, dass Nan Goldin im Gegensatz zu sechs anderen Zeitzeugen nicht befragt werden konnte.
Sophie Junges Schreibe ist gut zu lesen, verwendet abwechslungsreiche und genaue Formulierungen ohne mit gespreizten Fachwort-Rauchbomben und Schachtelsätzen um sich zu werfen.
"Dreh- und Angelpunkt der Untersuchung ist die Fotografin Nan Goldin." (41) Tatsächlich geht es in Junges Buch kaum um die "Fotografin Nan Goldin" (Klappentext) sondern um die Kuratorin Goldin und ihre künstlerische community. Junges Ziel ist es, Fragen nach den Produktionsbedingungen, dem Ausstellungskonzept und ihrer Rezeption zu beantworten.
Junge kommt zu dem Schluss, dass erstens AIDS zu einem Katalysator bestehender gesellschaftlicher Konflikte um Minderheitenpolitik und sexuelle Selbstbestimmung, insbesondere um Homosexualität, wurde.
Zweitens mussten Künstler und Künstlerinnen eher irgendwie von Aids betroffen und mit Goldin befreundet sein, um Teil der Ausstellung zu sein, als sich immer in den jeweiligen Werken mit AIDS zu befassen.
Trotz der Forderung der Kuratorin nach angemessener, d.h. bei Goldin: positiver Darstellung von Persons With AIDS (PWA) fanden die Künstler und Künstlerinnen drittens "keine neue AIDS-spezifische Bildsprache" (307). Dass "die Sichtbarkeit von 'andersartiger' Sexualität und (homo-)sexuellem Begehren in der Ausstellung vielfältige Ausführungen fand", sieht Junge zunächst nicht als damalige dezidierte Auseinandersetzung mit AIDS an. Im Gegensatz zu den aktivistischen Arbeiten Gran Furys, die anders als die Künstler und Künstlerinnen in Goldins Schau eine kollektive, politisch-motivierte, wiedererkennbare visuelle Identität der AIDS-Bewegung (neu) schufen, begreift Junge die einzelnen Werke in "Witnesses: Against Our Vanishing" nicht zwingend als unmittelbare Auseinandersetzungen mit AIDS, sondern in einem größeren Kontext mit den Themen Sexualität, Vergänglichkeit, community, Liebe etc. Erst ihre Zusammenstellung in der Ausstellung sieht Junge durchaus als eine Auseinandersetzung mit AIDS.
Viertens wurde die Schau politisiert, von der Öffentlichkeit wie von den Beteiligten. Dabei stand die Betroffenheit von AIDS, und nur wenig die künstlerische Beschäftigung mit AIDS im Vordergrund. Goldins community war fünftens elitär, da "fast ausschließlich weiß, [...] [mit] Collegeabschluss und [...] als Künstlerinnen und Künstler in der Lage, ihre Repräsentation selbst in die Hand zu nehmen." (308) und bestätigte damit die damalige öffentliche Meinung von PWA als Minderheit.
Ulrich Blanché