Rezension über:

Nadja Kimmerle: Lucan und der Prinzipat. Inkonsistenz und unzuverlässiges Erzählen im Bellum Civile (= Millennium-Studien zu Kultur und Geschichte des ersten Jahrtausends n. Chr.; Bd. 53), Berlin: de Gruyter 2015, IX + 344 S., ISBN 978-3-11-037346-2, EUR 109,95
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Rezension von:
Christiane Reitz / Markus Kersten
Heinrich-Schliemann-Institut für Altertumswissenschaften, Universität Rostock
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Christiane Reitz / Markus Kersten: Rezension von: Nadja Kimmerle: Lucan und der Prinzipat. Inkonsistenz und unzuverlässiges Erzählen im Bellum Civile, Berlin: de Gruyter 2015, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 5 [15.05.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/05/26994.html


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Nadja Kimmerle: Lucan und der Prinzipat

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Nadja Kimmerle behandelt in ihrer Monographie 'Lucan und der Prinzipat' die umstrittene Frage nach der Stellung Lucans zur Monarchie und insbesondere zu Nero. [1] Ist das Bellum Civile (BC) die Auseinandersetzung eines Intellektuellen der Nerozeit mit der Bürgerkriegsthematik, und welchen Wert besitzt es als historische Quelle - diese Leitfragen stellt sie im ersten Kapitel (13).

Wie der Untertitel der Arbeit verspricht, ist für die Analyse mit dem Konzept der inconsistency ein literaturtheoretisches Modell gewählt, das seit einigen Jahren auch in der Klassischen Philologie intensiv diskutiert wird. Kimmerles Buch, das von großer Belesenheit in der Primär- wie der Sekundärliteratur zeugt, ist damit gleichermaßen für Althistoriker wie für Philologen interessant und nützlich.

Die Autorin wendet sich dagegen, das BC als Dokument der Opposition gegen Nero zu begreifen. Diese These wird den Lesern wird gleich zu Anfang in prägnanter Formulierung präsentiert: "Erkenntnisse über eine politische Haltung Lucans sind (...) aus dem Text heraus kaum zu treffen. Keineswegs jedoch sollen damit Erkenntnisse über den historischen Kontext bestritten werden; lediglich die enge Frage nach einer politischen Haltung erweist sich als falsche Frage an den Text" (21). Dem ist vollständig zuzustimmen.

Im zweiten Kapitel unternimmt es die Autorin, zunächst anhand des Alexandermotivs zu zeigen, dass Alexander sich bei Lucan als weder eindeutig positiv noch negativ erweist. Wie die Protagonisten des BC erscheine er als eine Figur von "schillernder Bewertungsvielfalt" (59). Insbesondere für Lucans Caesar wird dies als Interpretament herangezogen. Kimmerle legt besonderen Wert darauf, das Bild eines eindeutig tyrannisch-verbrecherischen Caesar als Folie für eine anti-neronische Aussage des Werkes als unhaltbar zu erweisen.

In Kapitel drei stellt sich Kimmerle der schwierigen Frage nach dem Verhältnis von literarischer Produktion und Prinzipatsherrschaft; das Bild von einem Tyrannen Nero, unter dem nur verdeckte Meinungsäußerung möglich gewesen wäre, wird zurückgewiesen. Allerdings nützt es wenig, dass Kimmerle bis S. 110 versucht, die grundsätzlichen gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingen von Literatur und Geschichtsschreibung zu umreißen - ein Unterfangen, zu dem man entweder noch viel weiter ausholen müsste, oder sich eingestehen, dass dies in einer Dissertation kaum zu leisten ist.

Das vierte Kapitel nutzt die Autorin, um nunmehr in größerer Ausführlichkeit das von ihr angewandte Erklärungsmodell vorzuführen (117ff.). Das Modell des unzuverlässigen Erzählers nach T. Yacobi sowie die jüngere wissenschaftliche Diskussion darum werden eingehend vorgestellt. So lobenswert diese methodische Sorgfalt ist, erregt sie doch bisweilen die Ungeduld des Lesers, der sich zwischen literaturwissenschaftlicher Grundlagenvermittlung und althistorischer Thesenbildung hin- und hergerissen fühlt.

In dem umfangreichsten fünften Kapitel wird in kursorischer Lektüre das unzuverlässige Erzählen im BC sowohl in Hinsicht auf die Figuren und deren Selbstdarstellung als auch in Hinsicht auf die Erzählerinstanz untersucht. Das Fazit des vorigen Kapitels "Republikanische Aussagen des Erzählers müssen relativiert werden" (143) wird hier einleuchtend bestätigt.

Überzeugend wertet Kimmerle die teils scheiternden "Selbstinszenierungen" der Protagonisten aus, hinzuweisen ist hier insbesondere auf Cato (59-64; 199-210). Seien die Aktionen selbst inszeniert oder vom Erzähler oktroyiert, keine der drei Figuren kann als Held der verloren gegangenen Republik beziehungsweise als deren Zerstörer gedeutet werden. Gegen solche politischen Stellungnahmen sperrt sich der Text.

Problematisch ist allerdings, wie die Autorin das Verhältnis von Figuren und Erzähler wertet. Wenn Kimmerle Jamie Masters und Kirk Ormand in der Parallelisierung von Caesar und dem Erzähler folgt (218ff.) [2], bleibt das Problem ungelöst, dass der Erzähler - er sei so unzuverlässig wie er will - dem Autor näher sein muss als die Figur Caesar, die vom Erzähler vorgestellt und angesprochen werden kann, aber nicht selbst dem Erzähler zu antworten vermag.

So beendet Kimmerle das fünfte Kapitel mit der etwas unbefriedigenden Feststellung "Im Bellum Civile (sei) keine eindeutige Textaussage festschreibbar" (266), um dann im sechsten die Frage zu erörtern, welcher Sinnstiftungsprozess textintern und textextern dem Epos dennoch zuzuschreiben sei. Hier werden im Rückgriff auf den Einleitungsteil die literaturwissenschaftlichen Analysen zurückgebunden an die historische Fragestellung nach der Rolle eines großen Erzähltextes in einem geschichtlichen spatium.

Die Autorin bemüht sich erkennbar um eine nachvollziehbare Gliederung. Das hat zur Folge, dass manche methodische Reflexion bisweilen redundant durchgeführt wird. Auch die Forschungsdiskussion, selbst wenn sie einem althistorischen Leserkreis die literaturwissenschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte nahebringen soll, hätte sich knapper fassen lassen. Positiv hervorzuheben ist, dass Kimmerle ihre Textbelege jeweils mit klaren eigenen Übersetzungen versieht. Eine sorgfältigere Schlussredaktion hätte eine Anzahl Druckfehler zu vermeiden geholfen, die im Ganzen aber nicht sinnentstellend sind.

Erfreulich und wichtig ist Kimmerles Problembewusstsein dafür, dass einem Text, der von seiner Entstehungszeit kaum abstrahiert werden kann, keine anachronistische Bedeutungsebene zugeschrieben werden sollte. Um das Scheitern der libertas so darzustellen, wie Lucan es in seinem Epos tut, bedarf es überhaupt erst der Konstruktion eines Ideals von libertas, das so erst unter den Bedingungen des fest etablierten Prinzipats möglich war. Ähnliches hat unlängst Isabella Wiegand für die Zeit des Tiberius nachgewiesen. [3]

Auch wenn Kimmerle eine politische Lektüre des BC ablehnt, bleibt doch offen, ob man das Epos deshalb als "literarisches Spiel" (267) zu lesen berechtigt ist. So begründet der Zweifel daran ist, dass wir die Rezeption eines Werkes durch die zeitgenössischen Leser umfassend rekonstruieren können, so wenig befriedigend scheint es doch, bei einer Sicht stehen zu bleiben, die das Epos letztlich nur als einen Text 'in war with itself' begreift.

Der Erwartungshorizont des Lesers ist unserer Auffassung nach stark durch die Lektüre ebendieser Leser geprägt. Die Intertextualität des Textes sowohl in seiner Mikro- wie in seiner Makrostruktur bietet hier einen interessanten Deutungskontext. Kimmerle gibt zwar zu bedenken, diese Gattungskonventionen seien nicht zu rekonstruieren, ganz so pessimistisch sehen wir das jedoch nicht. Reinhard Häußler hat das nötige Material bereitgestellt, um uns einen Eindruck davon zu vermitteln, wie lückenhaft sich zwar unsere heutige Quellenlage darstellt, aber wie fest verankert das historische Epos in der epischen Konvention gewesen ist. [4] Jüngere Studien zum BC haben die generische und die motivische Intertextualität des Werkes herausgearbeitet. [5]

Dennoch bleibt festzuhalten, dass Kimmerles Unternehmen, mit dem literaturwissenschaftlichen Analyseinstrument des unzuverlässigen Erzählens ein für alle Mal mit einer eineindeutigen Sicht auf das Bürgerkriegsgedicht als Propagandaschrift aufzuräumen, im Ganzen gelungen ist und anregende Ausgangspunkte für weitere philologische wie historische Forschungen bietet.


Anmerkungen:

[1] Es handelt sich um die leicht überarbeitete Fassung von Kimmerles Tübinger Dissertation von 2013. Die seither erschienene Literatur konnte, wie zu Beginn erklärt wird, nicht mehr berücksichtigt werden.

[2] J. Masters: Poetry and Civil War in Lucan's Bellum Civile, Cambridge 1992; Kirk Ormand: Lucan's Auctor Vix Fidelis, ClAnt 13 (1994), 38-55.

[3] I. Wiegand: Neque libere neque vere: die Literatur unter Tiberius und der Diskurs der res publica continua, Tübingen 2013.

[4] R. Häußler: Studien zum historischen Epos in der Antike, Heidelberg, 2 Bde. 1976-1978.

[5] D. Groß: Plenus litteris Lucanus. Zur Rezeption der horazischen Oden und Epoden in Lucans Bellum Civile, Rahden 2013; A. Ambühl: Krieg und Bürgerkrieg bei Lucan und in der griechischen Literatur. Studien zur Rezeption der attischen Tragödie und der hellenistischen Dichtung im Bellum civile, Berlin / München / Boston 2015.

Christiane Reitz / Markus Kersten