Jakob Tanner: Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert (= Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert), München: C.H.Beck 2015, 679 S., 2 Ktn., ISBN 978-3-406-68365-7, EUR 39,95
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Jakob Tanner, emeritierter Professor für Geschichte an der Universität Zürich, legt fast zeitgleich zu seiner Emeritierung ein Übersichtswerk zur Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert vor. Das Werk spiegelt eine langjährige und intensive Forschungstätigkeit wider. Tanner war unter anderem Mitglied der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz - Zweiter Weltkrieg. Entstanden ist eine fulminante und geistreiche Studie.
Der Autor präferiert eine Strukturbildung zwischen "Großem Krieg" und Ende des Kalten Krieges, die sich am Modell des langen 20. Jahrhunderts von den 1880er Jahren bis 2010 ausrichtet und die sich als produktiver erweisen soll als das von Eric Hobsbawm geprägte "kurze 20. Jahrhundert" mit der Fokussierung auf die Sowjetunion (552). Tanner, der sich in seiner Studie intensiv mit Bildern und damit dem Bilddenken befasst [1], setzt so mit dem Fin de Siècle und der Belle Époque an, wo der Mythos von der Entstehung der Eidgenossenschaft eine klassen- und schichtenübergreifende Attraktivität erhielt und auch im Freiheitsbewusstsein der Linken verankert war (69). Von da aus schlägt er den Bogen zum aktuellen Souveränitätsmythos.
In einem vordergründig "langweiligen Staat", der sich als unfähig erwies, große Geschichte zu produzieren, treten insbesondere die Kontinuitäten und Beständigkeiten hervor (13). Wie Tanner in seiner Darstellung zeigt, ist Schweizer Geschichte dennoch alles andere als langweilig. Ausgehend vom "Experimentierfeld der Moderne", die als Chiffre für die Ambivalenz all dessen steht, was aus ihr hervorgegangen ist - so auch die Schweiz (34) -, folgt Tanner der Entwicklung im 20. Jahrhundert mit einer Unterteilung in drei Phasen: Eine erste bildet die Zeit des "robusten Kleinstaats", beginnend mit der "Prosperität um 1900"; eine zweite umschreibt er als "bedrohte offene Volkswirtschaft", eingeleitet mit den Dissonanzen der Moderne um 1925; auf diese folgt eine dritte Zeitspanne der "widerwilligen Bewegung" mit den Krisen ab Mitte der 1960er Jahre. Im Vordergrund der Analyse stehen die Spannungen zwischen Demokratie, Kapitalismus und Nationalmythologie. Dieses Dreieck durchzieht wie ein roter Faden die diskursgeschichtliche Analyse.
Ein zentrales Gewicht erhält die Geschichte der Linken mit der Schweizerischen Sozialdemokratie und den Gewerkschaften wie auch der späteren Neuen Linken sowie den sozialen Bewegungen. Tanner greift zudem viele andere Themen und Entwicklungen auf. Der Bogen spannt sich von der Suche nach einer nationalen Identität vor dem Ersten Weltkrieg über die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg und die Debatten um New Public Management in den 1990er Jahren bis zur polarisierten Schweizer Parteienlandschaft der jüngsten Vergangenheit. Am Ende des langen 20. Jahrhunderts ortet Tanner drei "Endpunkte", die Rettung der Schweizer Großbank UBS, das nationale Gedenken an die Opfer von fürsorgerischen Zwangsmaßnahmen und die Abstimmung über die Volksinitiative der Schweizer Volkspartei mit dem suggestiven Titel "Gegen Masseneinwanderung", welche sich alle als Nachgeschichten von Vorgängen erklären lassen, welche die Schweiz schon vor der Zeit der beiden Weltkriege geprägt haben (538).
Tanner zeigt in seiner Publikation anschaulich auf, wie die Schweiz auf ihre Weise Teil des von Katastrophen gezeichneten Jahrhunderts gewesen ist. Seine Darstellung versteht er nicht als Thesenbuch, das eine Schneise schlägt, sondern er mäandriert zwischen den verschiedenen Sphären gesellschaftlicher Entwicklung. Historiker haben es schließlich stets mit einer "doppelten Konstituierung" von Realität zu tun, die einerseits durch die Perzeption der Lebensbedingungen und andererseits durch eine objektivierbare Wirklichkeit geschaffen wird. [2]
Tanners neuestes Buch fand nicht nur breite Beachtung, sondern löste auch kritische Reaktionen aus. Die Gründe liegen einerseits darin, dass er das nationalkonservative Schweizbild dekonstruiert und analytisch deutet. Eine der Leitthesen des Buches geht davon aus, dass die Schweiz die "ambivalente Moderne" wiederholt mit nationalistischen Abwehrreflexen zu stabilisieren versuchte. Distanziert zeigt sich der Autor auch gegenüber einer "bürgerlichen Erfolgsgeschichte" (517). Tanner entwirft denn auch so etwas wie ein normatives Gegenbild einer anderen Schweiz mit weniger Nationalegoismus und einem selbstloseren gesellschaftlichen Engagement. [3] Die Geschichte der Schweiz im langen 20. Jahrhundert zeige, so Tanner, dass sich Mythen nicht zerstören, sondern nur umarbeiten lassen (17). Wenn er auf die Rolle der Schweiz in Europa zu sprechen kommt, dann plädiert er für eine genuine "Logik der Europäisierung, die in einem Kontinent der Ruinen als 'europäische Rettung des Nationalstaates' in Gang gesetzt wurde" (570). Kritisch steht er dem schweizerischen Sonderfall gegenüber, wie er sich im Verlauf des Kalten Krieges nach 1945 durchzusetzen vermochte. Ursprünglich als Zweckargument vorgetragen, wurde dieser, so Tanner, zu einem schweizerischen Wesensmerkmal und einer Identitätskonstante. Dabei wusste sich das Land als neutraler "Trittbrettfahrer" zu verhalten (538): "Das Realitätsprinzip des schweizerischen Staatswesens basierte auf einem einträglichen Zusammenspiel von produktiven Fiktionen und materiellen Interessen", folgert der Autor (306). Tanner beschäftigt sich intensiv und kritisch mit den Ausprägungen des nationalen Eigennutzes. Doch zählt das Vertreten staatlicher Partikularinteressen auf der internationalen Bühne nicht eher zum Normalfall? [4]
Wie auch immer, das Werk weckt Widerspruch. Damit trägt der Autor dazu bei, sich über das Modell und die Perspektiven der Schweiz Gedanken zu machen. Der Umgang mit Geschichte, und dazu zählt auch das Verfassen von Büchern, dient der Orientierung in der Zeit. [5] Jakob Tanner setzt hierzu mit seiner umfassenden Interpretation der Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert einen Meilenstein in dieser Debatte.
Anmerkungen:
[1] Das Bilddenken ist Kern von Walter Benjamins Geschichtsphilosophie. Siehe dazu Sigrid Weigel: Entstellte Ähnlichkeit. Walter Benjamins theoretische Schreibweise, Frankfurt/Main 1997.
[2] Dazu Hans-Ulrich Wehler: Literarische Erzählung oder kritische Analyse? Ein Duell in der gegenwärtigen Geschichtswissenschaft, Wien 2007, 49.
[3] Siehe Markus Schär: Im komfortablen Elend, in: Die Weltwoche vom 20. März 2016; http://www.weltwoche.ch/weiche/hinweisgesperrt.html?hidID=555131.
[4] Vgl. zur Debatte Oliver Zimmer: Im Banne des Sonderfalls. Jakob Tanners Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert, in: Neue Zürcher Zeitung vom 12. September 2015; http://www.nzz.ch/feuilleton/buecher/im-banne-des-sonderfalls-1.18611609.
[5] Johannes Meyer-Hamme: Historische Identitäten in einer kulturell heterogenen Gesellschaft, in: Michele Barricelli / Martin Lücke (Hgg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts, Bd. 1, Schwalbach/Ts. 2012, 89-97, hier 89.
Markus Furrer