Rezension über:

Quentin Bajac / Lucy Gallun / Roxana Marcoci u.a. (Hgg.): Die große Geschichte der zeitgenössischen Photographie. 1960 bis heute, München: Schirmer / Mosel 2015, 367 S., 330 Farbabb., ISBN 978-3-8296-0718-6, EUR 78,00
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Rezension von:
Stefan Gronert
Kunstmuseum Bonn
Redaktionelle Betreuung:
Olaf Peters
Empfohlene Zitierweise:
Stefan Gronert: Rezension von: Quentin Bajac / Lucy Gallun / Roxana Marcoci u.a. (Hgg.): Die große Geschichte der zeitgenössischen Photographie. 1960 bis heute, München: Schirmer / Mosel 2015, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 5 [15.05.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/05/28473.html


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Quentin Bajac / Lucy Gallun / Roxana Marcoci u.a. (Hgg.): Die große Geschichte der zeitgenössischen Photographie

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Nach einem Buch mit einem solchen Titel haben wir uns schon lange gesehnt: "Die große Geschichte der zeitgenössischen Photographie"! Gerade im Zeitalter des Verlangens nach möglichst komprimierten und zugleich doch weite Bereiche erkundenden Überblicken, welche nicht zuletzt Resultat einer formalisierten Veränderung der Studien-Struktur ist, ist man dankbar für die vermeintliche Einlösung eines solchen Versprechens. Denn obwohl sich in den vergangenen Jahren diverse kleinere Publikationen an dieses große Thema herangewagt haben [1], ist doch eine überzeugende Geschichte der zeitgenössischen Fotografie nach wie vor ein Desiderat. Der Titel des vorliegenden 368 Seiten starken Bandes scheint endlich Abhilfe zu bieten.

Dieser erste Band eines auf drei Teile angelegten Kompendiums zur Geschichte der Fotografie seit dem 20. Jahrhundert konzentriert sich auf die Zeit von 1960 bis heute, beginnt also chronologisch am Ende des avisierten Zeitraums. Er verdankt sich einem Team von acht amerikanischen Autoren und stützt sich auf die Sammlung des New Yorker Museum of Modern Art - was die gleichzeitig erschienene amerikanische Ausgabe im Titel deutlicher macht: "Photography at MoMA. 1960 - Now". Das ist die erste kleine Ernüchterung. Zwar gilt die Sammlung des immerhin bereits 1940 eingerichteten Departments of Photography bis mindestens in die Achtzigerjahre als die wichtigste Referenz für künstlerische Fotografie, doch seitdem haben viele andere Museen aufgeholt, sodass das MoMA seine Funktion als "Judgement Seat of Photography" [2] zunehmend verloren hat.

Quentin Bajac, ein seit 2013 zum Leiter der Fotografie-Abteilung des MoMA bestellter Franzose, skizziert einleitend die wechselnde Geschichte der Sammlung in konziser Form (10-17) und kann dabei im Detail auf bislang nicht publiziertes Material zurückgreifen. Anschließend wird die große Geschichte des Mediums in acht Kapiteln erzählt, die - mit einer Ausnahme - immer 1960 beginnen und - mit zwei Ausnahmen - immer bis in die Gegenwart reichen. Dabei wird an keiner Stelle grundlegend reflektiert, was den jeweiligen kunsthistorischen Einschnitt von 1960 bzw. 1980 eigentlich rechtfertigt. Klammern wir die durchaus ernsthafte Frage danach, wann zeitgenössische Fotografie überhaupt einsetzt, einmal ein, so wirkt die thematische Differenzierung der auf die Einleitung folgenden Kapitel auf den ersten Blick inhaltlich durchaus überzeugend.

Ähnlich wie David Campany, der für den historisch gleichen Zeitraum vor zwölf Jahren in seinem Überblick "Art and Photography" zufälligerweise ebenfalls acht Gruppen ausmachte [3], diskutieren die einzelnen Autoren die jeweiligen Positionen oder Bilder am Leitfaden folgender Überschriften: Neue Dokumente und darüber hinaus (20-23), Dekonstruktion der Fotografie (64-67), erzählerische Konstrukte (110-113), Performances für die Kamera (152-155), Fotografie und Massenmedien (192-195), Revision des Dokuments (238-241), Archiv (282-285), experimentelle Gestaltungen (318-321).

Wer die wirklich knapp gehaltenen, aber meistens inhaltlich überzeugenden Texte genau liest, wird nicht übersehen können, dass sie sich ausschließlich auf einen inner-amerikanischen Diskurs beschränken. Auf sie folgen sodann jeweils zahlreiche Abbildungen in recht guter Druckqualität, insgesamt 642 an der Zahl. Ein Abbildungsregister folgt, aber leider keine weiteren Literaturhinweise. Und auch begleitende Schriften, wie sie Campany noch in umfangreicher Form publizierte [4], fehlen hier völlig. Nicht zuletzt das ungleichgewichtige Verhältnis von Bild und Text provoziert fast automatisch die Charakterisierung des vorliegenden Bandes als eines "Coffee table book". Doch damit würde man der Qualität der kurzen Texte ebenso wenig gerecht wie der keineswegs nur geschmäcklerischen Auswahl der Abbildungen.

So erfreulich anregend die Auswahl der meisten Bildbeispiele auch ist, wichtige Werke der vergangenen fünfzig Jahre fehlen hier: Andy Warhols "Thirteen Most Wanted Men" (1964), Victor Burgins "Photopath" (1967-69), Lewis Baltz "Prototype Works" (1967-76), Katharina Sieverdings "Transformer" (1973), Hiroshi Sugimotos "Theaters" (seit 1978), Fischli & Weiss "Wurstserie" (1979), Jeff Walls "Picture for Women" (1979), Sol LeWitts "Autobiography" (1980) oder Richard Princes "Cowboys" (1980-87) - um nur einige ältere Beispiele zu nennen - sind in der Sammlung des MoMA, wie sie uns hier vorgestellt wird, offenbar nicht vertreten. Kann aber eine große Geschichte der zeitgenössischen Fotografie auf diese (und diverse weitere) Ikonen der letzten 50 Jahre wirklich verzichten?

Immerhin sollte man konzedieren, dass es sich hier um eine amerikanische Lesart der Geschichte der Fotografie handelt. Der entsprechende Verlauf einer solchen Geschichte in Europa unterscheidet sich davon komplett [5] - und genau diese Reflexion einer kontinentalen Differenz hätte man sich im vorliegenden Band auch gewünscht. Leider ist sie ausgeblieben, sodass man dem vollmundigen Titel der deutschen Ausgabe des MoMA-Buches leider nur attestieren kann, dass er an seinem überhöhten Anspruch gescheitert ist und allenfalls neben David Campanys nach wie vor wichtigen Überblick von 2003 ein weiteres brauchbares angelsächsisches Komplement hinzufügt. Das ist erfreulich, aber befriedigt uns Europäer nicht in unserem Wunsch nach einer alternativen Geschichte der neueren Fotografie.


Anmerkungen:

[1] Eine wirklich fundierte neuere Geschichte der Fotografie nach 1945 findet sich weder bei Boris von Brauchitsch: Kleine Geschichte der Fotografie, Stuttgart 2002 noch bei Rolf Sachsse: Fotografie. Vom technischen Bildmittel zur Krise der Repräsentation, Köln 2003, Wolfgang Kemp: Geschichte der Fotografie. Von Daguerre bis Gursky, München 2011 oder bei Bernd Stiegler / Felix Thürlemann: Meisterwerke der Fotografie, Stuttgart 2011.

[2] Vgl. Christopher Phillips: The Judgement Seat of Photography, in: October 22 (1982), 27-62, deutsch in: Herta Wolf (Hg.): Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Bd. 1, Frankfurt/M. 2002, 291-333.

[3] Vgl. David Campany: Art and Photography, London 2013. Campany wählt freilich meistens inhaltlich andere Leitmotive. Vgl. meine Rezension in: http://www.h-net.org/reviews/showrev.php?id=8221.

[4] Vgl. ebd., 209-287.

[5] Vgl. Stefan Gronert: Alternative Pictures: Conceptual Art and the Artistic Emancipation of Photography in Europe, in: Douglas Fogle (ed.): The Last Picture Show: Artists using photography 1960-1982, (Ausst.-Kat.) Walker Art Center, Minneapolis 2003, 86-96.

Stefan Gronert