Pierre-Frédéric Weber: Timor Teutonorum. Angst vor Deutschland seit 1945. Eine europäische Emotion im Wandel, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2015, 285 S., ISBN 978-3-506-78101-7, EUR 39,90
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Reinhild Kreis (Hg.): Diplomatie mit Gefühl. Vertrauen, Misstrauen und die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2015
Andreas Wilkens (Hg.): Wir sind auf dem richtigen Weg. Willy Brandt und die europäische Einigung, Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2010
Meik Woyke (Hg.): Willy Brandt - Helmut Schmidt. Partner und Rivalen. Der Briefwechsel (1958-1992), Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2015
In den letzten Jahren erschienen zunehmend Studien zum Einfluss von Gefühlen, insbesondere der Angst, auf die internationalen Beziehungen. [1] Pierre-Frédéric Weber betrachtet Angst "aus historischer Perspektive" gar als "eine der europäischen Grundemotionen" (253). Deutschland nach 1945 bietet sich in der Tat als Untersuchungsobjekt für diese Emotion im internationalen Kontext an: Zunächst lag das ehemals übermächtige Land geteilt in der Mitte des ebenfalls gespaltenen Europas, schließlich weckte es vereint erneut vorübergehend unterdrückte Ängste. So hebt Weber auch bei der Angst vor Deutschland die Besonderheit von deren "Dauerhaftigkeit bzw. Wiederkehr in der longue durée" hervor (9). Auch wenn sich Webers Studie meist auf die Angst vor der Bundesrepublik konzentriert, wird auch die DDR im Abgleich immer wieder in den Blick genommen. Um die Untersuchung in einem überschaubaren Rahmen zu halten, wendet er sich exemplarisch dem "Timor Teutonorum" - der Angst vor den Deutschen - in Frankreich und Polen zu, um diese dann knapp mit den Gefühlen in anderen Staaten des "westlichen" bzw. des "östlichen" Lagers im Kalten Krieg abzugleichen. Als ausgewiesenem Kenner sowohl der französischen als auch der polnischen Geschichte gelingt es Weber auf engem Raum, große Entwicklungslinien ebenso nachvollziehbar darzustellen wie treffende Einzelbeispiele zur Illustration seiner Thesen über die jeweilige Ausformung der Angst auszuwählen.
Nach einer ausführlichen Vorstellung der Methoden der Emotionsgeschichtsforschung folgt die Studie schließlich überwiegend einem sozialkonstruktivistischen Ansatz und versucht, zwischen vergleichsweise kurzlebigen kollektiven Emotionen und den langlebigeren kulturell angeeigneten Emotionen der verschiedenen Staaten zu unterscheiden. Weber entwirft dabei zunächst eine Typologie der Angst vor Deutschland nach 1945 und stellt fest, dass die Angst vor dem deutschen Militärpotential und dem Kultureinfluss im Osten Europas zwar stärker als im Westen war, insgesamt jedoch die Angst vor einem wirtschaftlichen Wiedererstarken (West-)Deutschlands aus unterschiedlichen Gründen in allen Teilen Europas dominierte. Wie die Angst vor der deutschen wirtschaftlichen, militärischen und kulturellen Übermacht in Ost und West auch politisch instrumentalisiert wurde, findet ebenfalls Beachtung in der Analyse.
Unter dem Schlagwort "Topografie" stellt Weber fest, dass Angsterfahrungen, die ein Staat in der Vergangenheit mit Deutschland gemacht hat, ebenso wie ein Gefühl der Unterlegenheit durch asymmetrische Machtverhältnisse angststiftend sein können. Auch geografische oder kommunikative Nähe bzw. Distanz, hier als "Nachbarschaftsverhältnis" (163) bezeichnet, spielen eine Rolle. Je nach Zuordnung zum "östlichen" oder "westlichen" Lager können zudem Ost-West-Unterschiede über Perpetuierung von Angst entscheiden. Hatte ein Staat in der Vergangenheit hingegen eine "Schicksalsgemeinschaft" (163) mit Deutschland - wie dies beispielsweise mit Österreich der Fall war -, wirkt sich dies angstabbauend aus. Schließlich untersucht Weber, wie sich die Angst u.a. durch Versöhnungsversuche von Seiten Deutschlands und Veränderungen in der Großwetterlage im Kalten Krieg im Laufe der Jahrzehnte verändert hat. So milderte die deutsch-französische Aussöhnungspolitik von Konrad Adenauer und Charles de Gaulle französische Ängste vor einer deutschen Vormachtstellung. Auch stellten Willy Brandts Ostpolitik sowie sein sinnbildlicher Kniefall in Warschau einen "Wendepunkt in der polnischen Angstkultur" (198) dar. In beiden Ländern kam es jedoch zu Reaktivierungsmomenten insbesondere durch den Fall der Mauer und die deutsche Einheit 1989/90. Ein wenig isoliert wirkt hier ein Exkurs zu "Deutschlandbildern im Kino" (223-229), der lediglich einzelne Aspekte der Rolle von Medien bei der Entstehung kollektiver Emotionen andeutet, ohne dieses Thema erschöpfend behandeln zu können. Zuletzt geht Weber der Frage nach, wie Deutschland auf die Angst seiner europäischen Nachbarn hauptsächlich mit außenpolitischer Selbstbeschränkung und Versöhnungsversuchen reagierte und wie dies wiederum auf die europäischen Staaten wirkte.
Pierre-Frédéric Weber greift mit seiner Untersuchung zur französischen und polnischen Angst vor den Deutschen ein wissenschaftlich aktuelles Thema auf, das einen wichtigen Beitrag zur Emotionsforschung und zur Geschichte der internationalen Beziehungen leistet. Die Studie ermöglicht viele Rückschlüsse auf Angst als europäische Grundemotion, bietet jedoch auch zahlreiche Anstöße für weitere Fallstudien auf europäischer und globaler Ebene sowie für weiterführende methodische Überlegungen zur Geschichte der Gefühle.
Anmerkung:
[1] Vgl. z.B. Bernd Greiner / Christian Th. Müller / Dierk Walter (Hgg.): Angst im Kalten Krieg, Hamburg 2009; Patrick Bormann / Thomas Freiberger / Judith Michel (Hgg.): Angst in den Internationalen Beziehungen, Göttingen 2010 (siehe dazu: http://www.sehepunkte.de/2012/10/20679.html); Reinhild Kreis (Hg.): Diplomatie mit Gefühl. Vertrauen, Misstrauen und die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 2015 (siehe dazu: http://www.sehepunkte.de/2016/03/27041.html).
Judith Michel