Rezension über:

Ilenia Colón Mendoza: The Cristos yacentes of Gregorio Fernández. Polychrome Sculptures of the Supine Christ in Seventeenth-Century Spain (= Visual Culture in Early Modernity), Aldershot: Ashgate 2015, XVIII + 186 S., ISBN 978-1-4094-3068-1, GBP 54,00
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Rezension von:
Agathe Schmiddunser
Department Kunstwissenschaften, Ludwig-Maximilians-Universität München
Redaktionelle Betreuung:
Saskia Jogler
Empfohlene Zitierweise:
Agathe Schmiddunser: Rezension von: Ilenia Colón Mendoza: The Cristos yacentes of Gregorio Fernández. Polychrome Sculptures of the Supine Christ in Seventeenth-Century Spain, Aldershot: Ashgate 2015, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 6 [15.06.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/06/28125.html


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Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.

Ilenia Colón Mendoza: The Cristos yacentes of Gregorio Fernández

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Mit dieser monografischen Veröffentlichung (zugleich Dissertation 2008) über das Liege-Motiv des toten Christus (Yacente) des spanischen Holzbildhauers Gregorio Fernández (1576-1636) trägt Ilenia Colón Mendoza zur Erforschung veristischer Skulptur im Frühbarock bei. Erscheinungsform, Funktion und Bedeutung von illusionistisch lebensechten Artefakten - lange Zeit als Randgebiet der Kunstgeschichte gehandelt - führten erst in den letzten Jahren, auch in Zusammenhang mit zeitgenössischen Tendenzen zu Hyperrealismen, zu groß angelegten Themenausstellungen. Sie legten ihren Fokus dabei auf Spanien und diese Sonderform des Realismus, wie The Sacred Made Real: Spanish Painting and Sculptures 1600-1700, London 2009, Washington 2010, Sacred Spain: Art and Belief in the Spanish World, Indianapolis 2010. Die große Illusion, Frankfurt, folgte 2015 und in Berlin sowie München ist Siglo de Oro. Die Ära Velazquez in Vorbereitung, die mit Alonso Cano (1601-1667) und Gregorio Fernández auch kaum bekannte Bildhauer zeigt. Dennoch stellt eine intensive monografische Auseinandersetzung mit dem Motiv des Yacente und seine Einbindung in die Ästhetik des Todes noch immer ein Desiderat dar.

Über eine interdisziplinäre Auswertung von liturgischen Quellen und Skulptur setzt sich die Verfasserin eine umfassende Analyse des von Gregorio Fernández perfektionierten und popularisierten Motivs zum Ziel. Als Kontemplationshilfe regte es zur Frömmigkeit an, als körperliches Symbol der Eucharistie, im Sinne einer Realpräsenz auf Basis der Transsubstantiation, suggerierte es den Gläubigen die Gewissheit möglicher Auferstehung und legitimierte so die politische Rolle mächtiger Auftraggeber wie Francisco Gómez de Sandoval y Rojas, dem Duque de Lerma (1552-1625) oder König Phillip III. (1578-1621) als passionierte Verfechter der Gegenreformation. Darin ist sich die bisherige Forschung einig. Der dezidierte Blick der Verfasserin gilt dem regionalen Umfeld und der Methode einer gezielten Manipulation durch Bildhauer und Auftraggeber.

Einleitend spricht Ilenia Colón Mendoza die sozio-politische Situation der durch die Textilproduktion reich gewordenen Stadt Valladolid als Anziehungspunkt für Künstler durch religiöse Bruderschaften und Kleriker nach 1618 an. Eine urbane Neugestaltung erlaubte prunkvolle religiöse Prozessionen und Feste, die vor allem der Erhöhung des Sakraments der Eucharistie gemäß den Vorgaben des Tridentinums (1545-1563) galten. Das erste Kapitel zur allgemeinen Ikonografie des Yacente als Symbol der Eucharistie führt exemplarisch Motivgruppen wie Beweinung, Grablegung, Salbung, Pietá und Grabchristus-Figuren an. Im Vergleich zu prominenten liegenden Christusfiguren der Tafelmalerei (Matthias Grünewald, Hans Holbein der Jüngere und Andrea Mantegna) wird auf den Paragone verwiesen, um den Vorzug einer körperlichen skulpturalen Präsenz hervorzuheben, die den Gläubigen physischen Kontakt ermöglichte und Demut nahelegte. Durch ideale Betrachteransicht zu Füßen des Yacente, traditionell Nikodemus zugeordnet, den die Legende mit dem Volto Santo von Lucca (10. Jahrhundert) verbindet, konstruiert die Verfasserin eine reflexive Identifikation Gregorio Fernández' mit dem Autor der Vera Icon, ergänzt durch eine angenommene Vorbildfunktion des Turiner Grabtuchs.

Das zweite Kapitel nennt drei Skulpturen und zwei Druckgrafiken als regionale Vorbilder. Juan de Junis Grablegung (1539-1544, Valladolid) dient als Vorgänger einer identifikatorischen Funktion von Liegefigur und bischöflichem Auftraggeber. Gaspar Becerras Körper-Reliquiar (1563, Descalzas Reales, Madrid) und Francisco de Rincóns Yacente (um 1597, Valladolid) werden als direkte Motiv-Vorbilder untersucht. Drucke von Cornelius Cort (Beweinung nach Taddeo Zuccaro, 1575) und Hieronymus Wierix (Die Jungfrau und Maria Magdalena wachen über den toten Christus, um 1570) stellen ebenso direkte Vorbilder dar. Die stilistischen Vergleiche zwischen Skulptur und Druck erfolgen in einzelnen Details und mitunter unreflektiert. So hatte bereits Jesus Urrea Fernández, Kenner des Gesamtwerks von Gregorio Fernández, nicht nur dessen kreative Qualität im virtuosen Erfinden neuer Typen hervorgehoben, sondern auch angemerkt, dass keinem der Drucke direkte Vorbildfunktion in Bezug auf vollplastische Figuren zuzuweisen ist. [1] Kaum Beachtung findet das große anatomische Interesse des Bildhauers und die naturalistische Gestaltung seiner teils nackt ausgeführten Skulpturen. [2]

Das dritte Kapitel erörtert die Fassung in polychromer Farbtechnik. Eine Analyse der Pigmente und postizos, künstlichen Materialkomponenten wie Horn, Glas oder Kork, geht mit ausführlichen Beschreibungen ausgewählter Yacentes im Kontext von Auftraggeber und Mitarbeiter einher. Dabei wird auf weitere Druckwerke und Bücher, Maler und Bildhauer wie Pompeo Leoni (um 1530/33-1608) und Giambologna (1529-1608) als Vorbilder verwiesen.

Das vierte Kapitel widmet sich dem Teatro Sacro. Es untersucht die Rolle der Yacentes als visualisierte Bühnenfiguren liturgischer Textbeschreibung und ihre Inszenierung. Schriften von Francisco de Borja (1441-1511), Juan de Ávila (1499/1500-1569), Luis de Granada (1504-1588), Teresa de Ávila (1515-1582), Alonso Rodriguez (1526-1616), San Juan de la Cruz (1542-1591), Luis de la Puente (1554-1624) und Antonio de Molino (1560-1612) werden in Bezug auf die empathische Funktion hinsichtlich Eucharistie und Spiritualität zitiert. Die teils rundansichtigen Yacentes im gläsernen Gehäuse einer Altarnische oder einer privaten Kloster-Kapelle wurden innerhalb eines großen Bildprogramms, als Andachtsbild und Ikone zugleich, im Heiligen Grab verehrt. Während der Karwoche führte man sie teils auf Prozessionen mit. Die damit einhergehende Illusion göttlich inspirierter Wunderwerke und ihre Funktion als plastische Vision ist überzeugend dargestellt und dokumentiert. Zudem leistet die bildwissenschaftlich orientierte Analyse des Bewegtwerdens der Yacentes bei Prozessionen sowie die Erläuterung zeitgenössischer Kritik an den performativen Täuschungsmanövern im klerikalen Diskurs einen wichtigen Beitrag zur Forschung.

Die Recherchen zu Ikonografie, Auftraggebern sowie Material und Technik der elf Gregorio Fernández selbst zugeschriebenen Yacentes und einiger Werkstattarbeiten versammeln umfangreich Primärquellen und relevante Sekundärliteratur. Eine nachträgliche Unterteilung der ursprünglichen Kapitel der Dissertation in Unterkapitel höchst unterschiedlicher Länge, isolieren teils inhaltliche Zusammenhänge. Neue Impulse bietet vor allem das vierte Kapitel zum Teatro Sacro. Zusammen mit der vorbildlichen Aufarbeitung des aktuellen Konservierungszustands und sehr ausführlichen Beschreibungen im dritten Kapitel und im Werkkatalog ergänzt es bisherige Analysen entscheidend und bietet nachfolgenden Forschungsarbeiten eine fundierte Grundlage.


Anmerkungen:

[1] 74, Jesús Urrea Fernández: El escultor Gregorio Fernández 1576-1636, Valladolid 2014.

[2] Vgl. 246, Juan José Martín González: Ecce Homo: 1600, in: Time to Hope / Tiempo para la Esperanza: Las Edades del Hombre, Cathedral St. John the Divine, New York 2002; vgl. 164, Xavier Bray et al. (eds.): The Sacred Made Real: Spanish Painting and Sculptures 1600-1700, London 2009; vgl. 40, Stefan Roller (Hg.): Die Große Illusion. Veristische Skulpturen und ihre Techniken, Frankfurt a. M. 2015.

Agathe Schmiddunser