Iriana Gradinari / Dorit Müller / Johannes Pause (Hgg.): Wissensraum Film (= Trierer Beiträge zu den historischen Kulturwissenschaften; 13), Wiesbaden: Reichert Verlag 2014, VIII + 276 S., ISBN 978-3-95490-037-4, EUR 59,00
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Der Sammelband Wissensraum Film führt die Konzepte Raum, Wissen und Film nicht nur wissenshistorisch und medienwissenschaftlich zusammen. Vielmehr erkunden die Beiträge, wie Wissen durch seine spatiale Entfaltung im Film hervorgebracht wird. Der Band fragt somit nach der räumlichen Gebundenheit von Wissen und den genuin filmischen Modi der Wissensproduktion durch seine Verortungen. Angesichts der Engführung dreier solch großer Konzepte könnte befürchtet werden, dass die Befunde zu weit und damit entweder essentialistisch oder unergiebig ausfallen. Das Gegenteil ist der Fall: Die Triangulation von Raum, Wissen und Film erweist sich als methodische Lupe, welche das Wissen über die einzelnen Elemente nicht verwässert, sondern schärft. Hervorzuheben ist in diesem Sinne sowohl die durch die Herausgeber und Herausgeberinnen geleistete Bestimmung spatialer und epistemischer Möglichkeitsbedingungen und Potenziale des Films als auch der einführende Beitrag "Die epistemischen Motoren des Kinos" von Johannes Pause, welcher das dem Band zugrunde liegende Wissensraum-Konzept aufbereitet. Er unternimmt eine heuristische Differenzierung dreier Wissensebenen im Film, in die die Beiträge des Bandes verortet werden: zunächst Wissen, das vom Film aufgenommen und thematisiert wird (Wissen im Film), als nächstes Wissen, welches durch die filmische Technologie erst ermöglicht wird (Wissen durch Film), und zuletzt Wissen, welches der Film von sich selbst kreiert (Wissen über Film). Die Herausgeber und Herausgeberinnen ordnen die Beiträge nach den Möglichkeitsbedingungen der Wissensgenese und entwickeln dazu die drei Begriffe "Entfaltung", "Rahmung" und "Verschiebung".
Der erste Abschnitt "Entfaltungen" befasst sich mit der Erkundung filmischer Räume einerseits und mit der Ausbreitung des Films auf unterschiedliche Aufführorte und der Erschließung neuer Wahrnehmungs- und Wissensräume andererseits. Daniela Wentz' Beitrag "Moving pictures of thought" Diagrammatisches Schließen im Kino untersucht auf Grundlage der Diagrammatologie von Charles S. Peirce, wie Wissen durch die Verkettung von Bildern hervorgebracht wird. Diese relational-diagrammatische Organisation der Bilder analysiert sie anhand Hitchcocks Rear Window (1954) und der Serie Desperate Housewives (2004-2012). Vinzenz Hediger unterscheidet in seinem Beitrag Begehen und Verstehen. Wie der filmische Raum zum Ort wird drei Dimensionen des filmischen Raums - den Architekturraum, den Bildraum und den Filmraum, welche zusammen einen "'genuin bewegten' virtuellen Raum des Films" (62) bilden, der ganz in der Vorstellung des Zuschauenden gebaut wird. In einem weiten Bogen, der sich souverän zwischen Positionen von Lotte Eisner, Siegfried Kracauer und Kristin Thompson zur Filmarchitektur des Weimarer Kinos und Ausführungen von Hegel und Hans-Georg Gadamer zur Kunstphilosophie spannt, geht Hediger auf den ästhetischen Eigensinn des filmischen Raums ein.
Im Abschnitt "Rahmungen" tritt die Wissensproduktion über konkrete Bildräume und Wahrnehmungsbedingungen in den Vordergrund. Der Beitrag von Lisa Gotto Was weiß der Film vom Weiß? Filmisches Wissen zwischen Gestaltbildung und Gestaltauflösung verhandelt die Selbstreflexivität des filmischen Mediums anhand der Schneebilder in Shining (1980), Fargo (1996) und The Day after Tomorrow (2004). Im Weiß des Schnees verschmelzen Erzeugung und Auflösung des Bildes, gleißendes Aufscheinen und greller Schein, weshalb es als paradigmatische Reflexion über die filmische Darstellbarkeit gelten kann: "In Bildern des Weißen kommt der Film zu sich selbst. Dabei verschränkt er die dem Weißen inhärenten Grundsätze von Generativität und Produktivität mit ihren Gegenseiten" (138). Diese Selbstreflexivität bezieht sich nicht nur auf die technologischen Bedingungen des Films, sondern verweist, wie Gotto in ihren luziden Analysen beweist, ebenfalls auf dessen Verhältnis zu anderen Medien der Sichtbarmachung.
An die wissende Leerstelle des filmischen Wissens schließt sich Oliver Fahles Beitrag Das dokumentarische Nicht-Wissen. Zu Philip Scheffners Filmen inhaltlich an. Fahle unternimmt in Anlehnung an Michael Renov eine Systematisierung der unterschiedlichen Wissensebenen im Dokumentarfilm. In Bezug auf Philip Scheffners Dokumentarfilmen The Halfmoon Files (2007), Der Tag des Spatzen und Revision (2012) zentriert er die Ebene des Nicht-Wissens, "das ebenso wie das Wissen von den Dokumentarfilmen mit hervorgebracht wird, normalerweise aber eher unterreflektiert bleibt." (158) Gerade durch das fehlende Wissen materialisiert sich bei Scheffner eine filmische Ästhetik der Verschiebung. Das Unsichtbare, das Nicht-Wissen des Films, tritt zwischen den Leerstellen des sichtbaren Wissens hervor und ergründet genuin dokumentarfilmische Wissensräume.
Der dritte Abschnitt des Bandes greift Operationen der Verschiebung als "Prozesse der Fusion, Synthese und Adaption des Wissens anderer kultureller Bereiche" (8) auf. Dieses aufgenommene Wissen wird durch die filmischen Räume transformiert, wodurch neue Wissensräume entstehen. Die Hervorbringung eines spezifischen Raums durch den Film untersucht Dorit Müller in ihrem Beitrag Filme über Eis und Schnee. Topologien des Wissens bei Frank Hurley und Werner Herzog. Systematisch erkundet sie die verschiedenen Wissensdimensionen zweier Expeditionsfilme und deren gegenseitige Verschränkungen. Das genuin filmische Wissen basiert einerseits auf der Inszenierung konkreter Wissensbestände, etwa der Glaziologie und Biologie, und Wissenschaftspraktiken, wie das Erfassen und Auswerten von Daten; und andererseits auf den selbstbezüglichen Reflexionen des Mediums und der Genrekonventionen. Müller gelingt eine durch die konsequent angewandten Analysekategorien überzeugende Dechiffrierung der komplexen Wissensebenen. Henning Engelkes film- und wissenschaftshistorischer Beitrag Filmisches Wissen und der Geist des Kalten Krieges. Kybernetische Modelle bei Gregory Bateson und Weldon Kees nimmt sich der Wissenstransformation in den bisher kaum untersuchten Forschungsfilmen von Bateson und Kees zu nonverbaler Kommunikation an. Film könne als Metapher "eines konkreten, relationalen und prozessualen Wissens" (225) verstanden werden und diene somit als materielle Grundlage für Wissensproduktion. Batesons und Kees' an Kybernetik geschulter Epistemologie verstanden den Film als Modell für Meta-Kommunikation und setzten diese Ordnung der Objekte ästhetisch im Film fort. Das außerfilmische Wissen über die nonverbale Kommunikation wird hier mit dem nichtsprachlichen Wissen des Films enggeführt - eine Perspektive, die sich für die Frage nach den Möglichkeiten des genuin filmischen Wissens äußerst produktiv erweist.
Die komplexen Verwicklungen zwischen dem sichtbaren und unsichtbaren, dem virtuellen und dem materiellen Wissen, mit denen sich die Beiträge des Bandes auf virtuose Weise beschäftigen, heben den wissenschaftlichen Wert des Nexus von Raum - Wissen - Film hervor: die Stärke der genuin filmischen Wissensproduktion liegt auf der räumlichen Ebene, da dieses Wissen nicht narrativierbar ist. Dieser scheinbaren Essentialisierung des Wissensraum-Konzepts widersetzen sich die Beiträge, die in ihrer Bandbreite belegen, dass gerade die verräumlichten Wissensformen auf ihre materiellen, diskursiven und ästhetischen Verortungen angewiesen sind.
Yumin Li