Wolfgang Göderle: Zensus und Ethnizität. Zur Herstellung von Wissen über soziale Wirklichkeiten im Habsburgerreich zwischen 1848 und 1910, Göttingen: Wallstein 2016, 331 S., 9 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-1732-1, EUR 34,90
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Die Promotion von Wolfgang Göderle befasst sich mit "den Praktiken der Durchethnisierung Zentraleuropas am Beispiel des Habsburgerreiches zwischen 1850 und 1910" (282). Im Zentrum der Untersuchung stehen Fragen zu Schaffung und Stabilisierung von Ethnizität durch Staatsverwaltung und Statistik. Dazu zählen etwa maßgeblich Konzeption, Organisation, Durchführung und Auswertung der Volkzählungen, die zwischen 1869 und 1910 insgesamt fünf Mal in der cisleithanischen Reichshälfte der Habsburgermonarchie durchgeführt wurden. Dabei wird deutlich, wie die Praktiken der Schaffung von Wissensformationen "Ethnizität" erst formten und definierten. Die Arbeit gliedert sich in vier Abschnitte. Das erste Kapitel umreißt die theoretischen Konzepte, entlang welcher sich die Analyse entwickelt. Zentral dabei sind Verfahrensweisen, welche die science studies in den letzten Jahrzehnten entwickelten, aber auch raumtheoretische Herangehensweisen und Ansätze der imperial studies.
Anschließend setzt sich der Autor mit der Frage der Durchführung der Volkszählungen selbst auseinander. Methodisch bedient er sich des Modells der "zirkulierenden Referenz" (Bruno Latour), um die Übertragung einer "sozialen Realität in eine administrative Repräsentation" (44) nachzuvollziehen. Deutlich wird dabei die enge Verknüpfung von Raum und Bevölkerung. Die Einwohner wurden mit ihren individuellen Eigenschaften in eine Topografie des Kaiserstaats eingeschrieben und so für die Verwaltung fassbar gemacht. Diese konnte nun auf detaillierte Informationen zu jedem einzelnen Individuum der Monarchie zurückgreifen. Damit leisteten die Volkzählungen einen wichtigen Beitrag zur administrativen Durchdringung des Raumes.
Die Administration spielte bei der Konzeption und Durchführung der Volkszählungen eine zentrale Rolle und arbeitete eng mit der entstehenden wissenschaftlichen Statistik zusammen. Im dritten Kapitel befasst sich Göderle daher mit dem Verhältnis dieser beiden Institutionen zueinander und zeigt, wie sehr sich Zugänge und Verfahren zwischen 1869 und 1910 wandelten. Mit dafür verantwortlich war der Umstand, dass die Administrativstatistik an den internationalen statistischen Diskurs andockte und sich die Statistik als "objektive" Wissenschaft bis zu einem gewissen Maß gegenüber der Verwaltung verselbständigte. Ein Beispiel für diesen Wandel ist der Direktorenposten der statistischen Behörde, den ab Mitte der 1880er-Jahre durchgehend ausgewiesene Statistiker bekleideten, während er zuvor mit juristisch bzw. geisteswissenschaftlich ausgebildeten Verwaltungsbeamten besetzt gewesen war.
Im letzten Kapitel schließlich setzt sich Göderle mit der Kategorisierung der Bevölkerung durch Ethnisierung auseinander. Er untersucht in diesem Zusammenhang mögliche Indikatoren, die Verwaltung und Statistik zur Schaffung von "ethnischem" Wissen heranzogen. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang die Sprachenzählung, die mit der Volkszählung von 1880 einsetzte und eine maßgebliche Referenz für die nationale Zuordnung der Bevölkerung darstellte. Allerdings verlief die Einführung dieser Kategorie nicht friktionsfrei; die Aufnahme in den Fragebogen kam letztlich erst auf internationalen Druck hin zustande. Allerdings existierte mit der "Ethnographische[n] Karte der oesterreichischen Monarchie" von Karl Czoernig bereits vor der Sprachenzählung ein Versuch, die Habsburgermonarchie "ethnisch" zu ordnen. Auch das über beinahe zwei Jahrzehnte und in hoher Auflage erschienene "Kronprinzenwerk" (1885-1902) repräsentierte (und legitimierte) den Vielvölkerstaat Österreich. Wie brüchig aber die Grundlagen, auf welchen diese Werke aufbauten, waren, zeigt das Beispiel der "Zigeuner-Conscriptionen". Im Zuge der Etablierung der Anthropologie als Wissenschaft wurde im Rahmen statistischer Untersuchungen zunehmend versucht, "rassische" Merkmale zu isolieren. Diese Bemühungen scheiterten letztlich - nicht nur im Falle der "Zigeuner-Conscription" -, da die Operationalisierung von Begriffen wie "Zigeuner" oder "Rasse" unterblieb. Diese Schwächen verschwiegen die öffentlichen Repräsentationen dieser Untersuchungen allerdings.
Göderle thematisiert in seiner Studie das komplexe Wechselspiel zwischen Staatsverwaltung (und damit verbunden staatlichem Machtanspruch über Territorium und Bevölkerung) und wissenschaftlicher Statistik (und damit verbunden Fragen der Objektivität) zwecks Schaffung von Wissen. Dieses Wissen enthält Marker, die genutzt wurden, um "Ethnizität" herzustellen und darüber zu verhandeln. Sie erst schufen jene "soziale Realität", die mit dem Instrumentarium der Administrativstatistik wiederum gemessen wurde.
Göderle bedient sich bei der Durchführung seiner Untersuchung elaborierter theoretischer Grundlagen und einer ausgefeilten Methodik, die jeweils ausführlich referiert und reflektiert werden. Der Text besticht daher durch seine theoretische Unterfütterung und durch ein hohes analytisches Niveau. Bei der Strukturierung des Buches gibt es allerdings einige Ungereimtheiten. Offenbar wurde die Gliederung von einzelnen Unterkapitel innerhalb der Hauptteile geändert, ohne die einführenden Texte anzupassen. So stimmen der Aufbau der Hauptteile und die sich auf diesen beziehenden Einleitungen nicht immer überein. Dieses formale Manko schmälert allerdings den inhaltlichen Erkenntniswert der elaborierten Studie in keiner Weise.
Karin Schneider