Claudie Paye: "Der französischen Sprache mächtig". Kommunikation im Spannungsfeld von Sprachen und Kulturen im Königreich Westphalen 1807-1813 (= Pariser Historische Studien; Bd. 100), München: Oldenbourg 2013, 600 S., ISBN 978-3-486-71728-0, EUR 64,80
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200 Jahre nach seiner Auflösung scheint das jahrzehntelang als Satellitenstaat mit Scheinverfassung und Pseudoparlament marginalisierte Königreich Westphalen endlich in den Kanon der deutschen Geschichtsschreibung aufgenommen worden zu sein. Davon zeugen nicht nur die zahlreichen Tagungen und Publikationen zum Bicentenaire seiner Gründung im Jahr 1807, sondern auch die zuvörderst an ein außerwissenschaftliches Publikum gerichteten Historischen Ausstellungen. Gleichzeitig lässt sich eine Erweiterung der Themen und methodischen Herangehensweisen registrieren: Standen in den 1970er-Jahren noch sozialgeschichtliche Aspekte im Vordergrund, so richtete sich die Aufmerksamkeit in den folgenden Jahrzehnten zunehmend auf verfassungsrechtliche und verwaltungspolitische Felder. Seit rund zehn Jahren werden vor allem Themen der politischen Kulturgeschichte, der Alltags- und Erfahrungsgeschichte aufgearbeitet. In diesem Zusammenhang spielen auch die deutsch-französischen Verflechtungen und der Transfer zwischen Frankreich und den deutschen Ländern eine immer wichtigere Rolle.
Einen substantiellen Beitrag zur politischen Sozial- und Kulturgeschichte Westphalens hat Claudie Paye mit ihrer als Dissertation von Rainer Hudemann und Etienne François im Cotutelle-Verfahren betreuten Arbeit vorgelegt. Zentrales Thema des Buches ist die Sprache im partiell zweisprachigen Königreich Westphalen, und zwar in all ihren Facetten: als Feld der Schul- und Verwaltungspolitik, als verbale wie nonverbale Praxis in der Gesellschaft und als Gegenstand von Reflexion und Kritik. Mit einer solchen Perspektive auf die westphälische Gesellschaft verlässt Paye das herkömmliche Deutungsfeld der Rheinbundforschung, die in der Regel nach dem Spannungsverhältnis von Okkupation (vulgo Fremdherrschaft) und Modernisierung fragt - ohne damit die von dieser Forschung aufgeworfenen Fragen auszublenden. Im Gegenteil: Sowohl die zwischen frankophonen und germanophonen Bürgern ausgetragenen Konflikte als auch die im Rahmen der Konstitutionalisierung und Parlamentarisierung bewirkte Politisierung der breiten Bevölkerung hingen untrennbar mit Fragen des Sprachgebrauchs zusammen und spielen denn auch im Buch eine wichtige Rolle. Zu Recht verweist Paye darauf, dass Sprache "eines der elementarsten sozialen Bindungselemente" sei (54). Und das gilt insbesondere für das Zeitalter des Nationalismus, in dem gemeinhin nationale Identität wesentlich über die Zugehörigkeit zu einer Sprachgemeinschaft definiert und sprachliche Einheit als Voraussetzung eines funktionierenden Nationalstaates verstanden wurde.
Mit der Wahl eines mithin ebenso zentralen wie universalen Themenfeldes des "langen 19. Jahrhunderts" werden dementsprechend zahlreiche Fragen aufgeworfen, wobei sich Paye auf drei Komplexe konzentriert: 1. Auf die Sprachpolitik: Welche Ziele verfolgte der westphälische Staat? Versuchten seine Repräsentanten die Einheit des Staates mittels Oktroyierung einer einzigen Sprache zu fördern, oder setzte man eher auf Zweisprachigkeit in Schule und Verwaltung? 2. Auf die Sprach- und Kommunikationspraxis: Welche Sprache wurde jeweils in welchem Zusammenhang von der westphälischen Bevölkerung verwandt? Wie verbreitet war das Phänomen der Bilingualität? Welche Rolle spielte das Russische in den Monaten des Zusammenbruchs, als Kosaken Kassel, die Hauptstadt des Landes, besetzten? Wie ging man mit den Problemen um, die sich aus dem Nebeneinander zweier Sprachen und zahlreicher deutscher Dialekte ergaben? Und welcher Medien bediente man sich, um auch die Analphabeten zu erreichen? 3. Auf das Sprachbewusstsein und die damit verbundenen Konflikte: Wie beurteilten die Zeitgenossen das Nebeneinander von Deutsch und Französisch? Stieß das Französische eher auf Akzeptanz oder auf Ablehnung in der deutschsprachigen Bevölkerung? Grenzten sich die Sprachgruppen voneinander ab? Blockierten der Anspruch auf Zweisprachigkeit und die Dominanz des Französischen auf der oberen Verwaltungsebene die Herausbildung eines westphälischen Nationalbewusstseins und trugen damit zum Scheitern des von Napoleon als Modellstaat auserkorenen Königreichs bei?
Diesen drei Fragekomplexen entsprechen drei Hauptteile - ein sinnvoller Zugriff, der es der Verfasserin erleichtert, die gewaltige Stofffülle zu organisieren, mit dem allerdings auch einige Redundanzen verbunden sind. Im ersten Hauptteil (59-97) kontrastiert Paye die vor allem im höheren Verwaltungsapparat forcierte Tendenz zur Französisierung mit der eher zurückhaltenden Förderung des Französischen im Schulunterricht und gelangt zu dem Ergebnis, dass die "Verinnerlichung des reformerischen Gedankenguts durch seine Kinder", die "Vermittlung von Fachwissen und die Befähigung zum Erlernen eines Berufs" dem Staat wichtiger waren als der Erwerb bilingualer Sprachkompetenzen (95). Viele Westphalen eigneten sich das Französische denn auch eher aus eigenem Antrieb an.
Im zweiten, der Sprachpraxis gewidmeten Hauptteil (99-351) konzentriert sich Paye auf die 'cultural brokers': auf Übersetzer, Dolmetscher, zweisprachige Schreiber und Sprachlehrer. Von solchen mehrsprachigen Vermittlern gab es offensichtlich recht viele; sie waren nicht nur in der Oberschicht zu finden (für die Französisch seit jeher als Prestigesprache galt), sondern auch in den unteren Gesellschaftsschichten. Einerseits kam dies der Obrigkeit mehr als gelegen, ließen sich doch so die Sprachbarrieren überwinden; andererseits entstand ein gewisses Misstrauen gegenüber den freiberuflichen Übersetzern, die ihre Sprachkompetenzen ja auch zu subversiven Zwecken einsetzen mochten. Mit Besorgnis registrierte man vor allem die 1813 verstärkt zirkulierenden russischen Wörterbücher, mit denen sich die Bevölkerung für die nahenden Kosaken munitionierte - womit sie gleichzeitig ihre Erwartungen auf einen unmittelbar bevorstehenden Zusammenbruch des Königreichs artikulierte. Es verwundert daher nicht, dass solche Hilfsmittel der Zensur anheimfielen - so wie auch die Entstellung hoheitlicher Symbole oder die Verwendung antifranzösisch oder staatskritisch ausgerichteter Medien, allen voran Karikaturen und symbolische Handlungen, repressive Maßnahmen nach sich zogen. Überzeugend zeigt Paye hier, dass der Politisierungsprozess der Westphalen 1813 "bereits in vollem Gang [war], und Kriegsmüdigkeit und Friedenssehnsucht [...] die klaren politischen Parteiergreifungen in den Unter- und Mittelschichten der Gesellschaft" bestimmten (334).
Im dritten Hauptteil (353-499) lenkt Paye den Blick auf eine Metaebene und beschreibt, wie in der westphälischen Bevölkerung der Sprachkontakt wahrgenommen und die Sprachenfrage reflektiert wurde bzw. welche Konflikte sich aus dem Kolinguismus ergaben. Dabei arbeitet sie heraus, wie Sprache insofern zum Politikum wurde, als manche die durchaus auftretenden, im Alltag aber zumeist bewältigten Verständigungsprobleme hochstilisierten (wobei solche Probleme übrigens auch zwischen Sprechern des Hochdeutschen und deutschen Dialektsprechern auftraten). Ungeachtet aller Abgrenzungen und Vorurteile zwischen Frankophonen und Deutsch-Sprechern scheint es tatsächlich nur selten zu ernsten Konflikten gekommen zu sein. Eine Dämonisierung des Französischen und eine 'Germanisierung' der deutschen Sprache ist erst seit 1813 - und auch das vermutlich nur in einigen frühnationalistisch gesinnten Kreisen - zu beobachten. Ausschlaggebender als die Nationalisierung war Paye zufolge die Politisierung, die sich in den Jahren 1807 bis 1813 zum Teil in bewusster Abgrenzung und Verfremdung der offiziösen Verlautbarungen ergab. Paye wörtlich: "Es war nicht so sehr der 'nationale' als der kritische Sinn, dem die westphälische Herrschaft zum Durchbruch verhalf" (520).
Es liegt nahezu auf der Hand, dass sich die zahlreichen Beobachtungen, Ergebnisse und Erkenntnisse dieser 599 Seiten umfassenden Publikation nicht zu einer einzigen kompakten These zusammenfassen lassen. Dafür antwortet Payes Buch auf zahlreiche Fragen (darunter solche, die so bislang in der Forschung zu Westphalen noch nicht gestellt worden waren) und gewährt Einblicke in eine Umbruchszeit, die bislang allzu oft mit Maßstäben unserer Gegenwart gemessen worden ist, was zu manchen Fehlurteilen verleitet hat. Mit großer Sensibilität schildert Paye uns eine Gesellschaft, die neben den mit der Implementierung des Reformprogramms verbundenen Herausforderungen gewaltige alltägliche Probleme sprachlicher Art zu bewältigen hatte - Probleme, die uns im heutigen multilingualen und vielfältig vernetzten Europa nicht völlig fremd sind. Dabei liefert sie immer wieder minutiöse und anschauliche Beschreibungen der Akteure und ihrer alltäglichen Konflikte.
Dass ein solcher Einblick überhaupt möglich wurde, verdankt Paye nicht zuletzt einem bislang kaum beachteten Quellenbestand von Polizeiakten, der in der Russischen Nationalbibliothek St. Petersburg lagert. Daneben hat sie die einschlägigen Bestände in zahlreichen größeren Archiven wie Paris und Berlin, Marburg und Hannover gesichtet und eine Vielzahl zeitgenössischer Publikationen, darunter Schulbücher, juristische Schriften, Wörter- und Sprachlehrbücher, Bulletins, Broschüren, Karikaturen und Memoiren, ausgewertet.
Wir haben es mithin mit einer Studie zu tun, die sowohl bei der Erschließung von Quellen als auch bei deren Auswertung weitgehend Neuland betritt und ein historisch relevantes Thema problembewusst behandelt. Claudie Paye hat mit ihrer sehr gut lesbaren Dissertationsschrift ein Buch vorgelegt, an dem die künftige Forschung zu Westphalen nicht mehr vorbeikommt und dem sowohl die Medien- und Kommunikationsgeschichte als auch die Nationalismus-Forschung zahlreiche Erkenntnisse und Anregungen entnehmen kann.
Armin Owzar