Sigrid Brandt: Stadtbaukunst: Methoden ihrer Geschichtsschreibung, Berlin: Bäßler 2015, 396 S., ISBN 978-3-945880-02-9, EUR 49,90
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Gut ein Jahrhundert nachdem die Städtebaugeschichte als Disziplin begründet wurde, befinden wir uns gegenwärtig in einer Phase, in welcher zunehmend über die Geschichte dieser Disziplin, ihre Ursprünge und ihre unterschiedlichen Schulen reflektiert wird. Sigrid Brandt leistet dazu einen umfangreichen Beitrag. Unter dem vielversprechenden Titel Stadtbaukunst. Methoden ihrer Geschichtsschreibung erschien im Januar 2016 ihre 2012 fertiggestellte Salzburger Habilitationsschrift.
Brandt hat sich dafür entschieden, die Geschichte der deutschsprachigen Städtebaugeschichte anhand ausgewählter Publikationen darzustellen. Zugleich räumt sie ein: "Die Betrachtung von Städtebaugeschichte ohne Jane Jacobs oder Aldo Rossi, ohne Colin Rowe, Kevin Lynch oder Robert Venturi ist in den Siebziger Jahren nicht möglich." (10) Sie öffnet damit ganz punktuell den internationalen Horizont, welcher die Städtebaugeschichte von Anfang an prägte, auch wenn sie auf eine Diskussion der genannten Lynch und Venturi verzichtet. Als Betrachtungszeitraum gibt sie die Zeitspanne von 1889 bis 1989 an. 1889 erschien in Wien Camillo Sittes Der Städte-Bau nach seinen künstlerischen Grundsätzen. Der Untertitel macht jedoch deutlich, dass es sich nicht um ein eigentlich wissenschaftliches, sondern um ein anwendungsbezogenes Werk handelt: Ein Beitrag zur Lösung modernster Fragen der Architektur und monumentalen Plastik unter besonderer Beziehung auf Wien. Ist damit schon 1889 als vermeintliches Gründungsjahr der Disziplin bezweifelbar, erscheint ein Epochenschnitt um 1989 für die Städtebaugeschichte ebenfalls als fragwürdig. Brandt schreibt: "Der Schluss des Untersuchungszeitraums ist nicht durch eine Publikation, sondern durch ein politisches Ereignis definiert: das Ende des Zweiten Weltkrieges, besiegelt durch die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen im Nachgang der Ereignisse vom November 1989." (9) - nur um wenig später festzustellen: "Eine Periodisierung, die sich an den historischen Zäsuren orientiert, erweist sich als unbrauchbar." (10)
Nachfolgend umreißt Brandt "grob fünf Phasen" der Städtebaugeschichte (11-14): 1) Von den 1890er-Jahren bis 1914 eine biologistisch-evolutionstheoretisch geprägte morphologische Klassifizierung von Stadtgrundrissen, ein antimodernes Interesse an der mittelalterlichen Stadt und eine Anwendung von Wahrnehmungsphysiologie und -psychologie. 2) In den 1920er-Jahren eine zunehmende Etablierung der Disziplin, ein Interesse ihrer Vertreter an der Gegenwart, aber zugleich auch die weitere Fokussierung auf die mittelalterliche Stadt, und das Erscheinen populärwissenschaftlicher Reihen. 3) Während der Zeit des Nationalsozialismus eine Politisierung der Städtebaugeschichte. 4) Nach 1945 ein abnehmendes Verständnis für die historische Stadt, zugleich aber eine Wiederaufnahme von Begriffen aus der Zeit um 1900 und eine "fortbestehende Dominanz der Mittelalterforschung" in Verbindung mit der Stadtkernforschung. 5) In den 1970er-Jahren ein zunehmendes Interesse am 19. Jahrhundert und der Großstadt, Negativbewertung der klassischen Moderne, Wiederentdeckung früherer Betrachtungsweisen und ein wachsender Einfluss von Soziologie und Denkmalpflege.
Auffällig ist, dass praktisch die gesamte so bedeutende Tradition der Städtebaugeschichte an der ETH Zürich bei Brandt nicht vorkommt. Hans Bernoulli wird nur erwähnt, obwohl er eines ihrer Anliegen träfe: Wie kommt das städtebauhistorische Wissen in das Handeln der Gegenwart? Ernst Egli, Verfasser einer dreibändigen, alle Epochen umfassenden Städtebaugeschichte, wird eingangs genannt; in der Bibliografie fehlen beide. Die völlige Absenz Paul Hofers könnte man am ehesten verzeihen, baute er seine Position doch unter anderem auf dem im Buch breit diskutierten Albert Erich Brinckmann auf. Allerdings war Hofer eine prägende Figur, nicht zuletzt für eine Handvoll heute lehrender Städtebauprofessoren. Auch bei André Corboz herrscht Fehlanzeige. Das ist besonders zu bedauern, da er eine Perspektive vertrat, die Brandt völlig fremd zu sein scheint: Städtebaugeschichte als Bedeutungsforschung. Vittorio Magnago Lampugnani schließlich kommt ebenfalls nicht über eine Erwähnung hinaus, was sich aber mit der zeitlichen Beschränkung begründen lässt.
Anstelle von Personen wie Hofer, der als erster Zürcher Ordinarius für Städtebaugeschichte jahrzehntelang Grundlagenforschung betrieb, findet sich ein ganzes Kapitel über Rob Krier, der sich als entwerfender Architekt seine eigene, wenig haltbare Theorie zurechtlegte. Hinzu kommt das Fehlen der auch im deutschen Sprachraum vorhandenen, immens wichtigen rilievi urbani in Nachfolge Saverio Muratoris.
Brandts Ausführungen sind mitunter oberflächlich, ja fehlerhaft. So gibt sie Joseph Gantners euphorische Rezension von Ernst Hamms 1932 erschienenem Buch über die Zähringerstädte wieder, samt Abbildung des "Idealplan[s] einer Zähringerstadt, nach Hamm. Zeichnung Joseph Gantner (?)." (195) Die Darstellung stammt gleichwohl von Hamm, wie ein Blick in sein Buch (139) unschwer belegt hätte. Die abstruse Zeichnung überführt die mittelalterlichen Zähringergründungen mit ihrer unregelmäßigen Geometrie (Hofer spräche hier vom 'dehnbaren Fadennetz' und von der 'Entasis des Marktraums') in ein Orthogonalschema, das nun eher einem römischen castrum mit cardo und decumanus ähnelt. Auf Gantner wirkte das keineswegs befremdlich, vertrat er doch die These, "daß der regelmäßige, an den Formen des römischen Castrum orientierte Stadtplan bei allen späteren Generationen zu einer Art Idealvorstellung geworden sei" (Grundformen der europäischen Stadt, Wien 1928, 79). Das Abwegige der Zeichnung scheint Brandt ganz zu entgehen. Sie enthält sich der Quellenkritik, obwohl darin ihr wissenschaftlicher Beitrag liegen könnte.
Ein weiteres Beispiel für die mangelnde analytisch-kritische Auseinandersetzung ist das Kapitel zu Karl Gruber (45-53). 1914 veröffentlichte Gruber idealisierte Vogelschaubilder "einer deutschen Stadt" in mehreren Zeitschnitten vom Mittelalter bis zum Barock. Er zeigt die Stadt dabei stets in maximalem Ausbauzustand, mit vollständig überbauter Stadtfläche, geschlossenen Platzwänden, vollendeter Stadtbefestigung etc. Trotz aufeinanderfolgender Zeitschnitte begreift Gruber Städtebau nicht als Prozess, sondern als fertiges Projekt. Wie irreführend das ist, deutet nur eine knappe Anmerkung an (47). Mehr dazu erfährt der Leser gut 200 Seiten später und in anderem Zusammenhang. Im Kapitel zur diachronischen Betrachtungsweise Erich Herzogs stellt Brandt zu Recht fest: "Die Geschlossenheit der Platzwände, die seit Camillo Sitte immer wieder als besonders mittelalterlich angesehen worden waren [!] und die bereits Albert Erich Brinckmann attackiert hatte, wird jedoch entschieden in den Bereich der Legende verwiesen." (286) Gleich noch eine andere eigentümliche Vorstellung wird durch Herzog entkräftet. In seinen Worten: "Immer deutlicher stellte sich auch heraus, wie wenig etwa die schematische Unterscheidung von gegründeter und gewachsener Stadt den geschichtlichen Verhältnissen gerecht wird. Gründung und Wachsen reichen sich in einundderselben Stadtbaugeschichte fortwährend die Hand." (282)
Ein letztes Beispiel: Am Ende des Kapitels zu Wolfgang Rauda referiert Brandt Konstantinos Doxiadis' Erklärungsversuch für die Disposition antiker Agoren, Akropolen und Heiligtümer via Polarkoordinaten in seiner 1937 erschienenen Berliner Dissertation (256-258). Brandt bemerkt zwar knapp: "Diese Herangehensweise lehnten sowohl Adolf Abel als auch Wolfgang Braunfels grundsätzlich ab." (256) Der Verweis auf die zugehörige Passage über Braunfels (295-297) unterbleibt indes. Es fehlt zudem ein Hinweis auf Armin von Gerkans vernichtende Rezension, in welcher er Doxiadis' Thesen widerlegt (Gnomon, Heft 10/1938, 529-534). Läge nicht gerade in einer kritischen Würdigung der besprochenen Schriften der Wert einer Publikation, zumal einer Habilitationsschrift, welche die Methoden der Städtebaugeschichte im historischen Rückblick vergleichend nebeneinanderstellen will? Stattdessen werden axiomatisch gut 75 Jahre alte Behauptungen vorgetragen.
Das Buch steht und fällt mit der Frage, ob man die Methoden einer Disziplin allein aus ihren Publikationen heraus analysieren kann. Archivalien wurden offenkundig nicht herangezogen, obwohl gerade sie Arbeitsprozesse sichtbar machen, die im fertigen Werk kaum ablesbar sind. Zudem lässt Brandt die Rezeptionsgeschichte in großen Teilen außer Acht, obwohl sie hälfe, die vielen existierenden Unzulänglichkeiten aufzudecken, denn: Wohl alle ihre Protagonisten näherten sich der Städtebaugeschichte zunächst dilettierend. Sie kamen aus Disziplinen wie der Kunstgeschichte, der Geografie oder der Architekturpraxis. Sie verfolgten so unterschiedliche Interessen wie die Kunstdenkmälertopografie, die Bodenreform oder die Architektenausbildung. Für manche blieb die Städtebaugeschichte eine Episode, wie Brandt richtig beschreibt. Da auch die nachfolgenden Generationen dilettierten, unterblieb oft die Grundlagenforschung, welche zu neuen und gesicherten Erkenntnissen führt. Das kompilatorische Tradieren erscheint mithin als eines der Hauptprobleme des Fachs. Brandts Werk gewänne an analytischer Tiefe, stellte sie die historischen Publikationen dem aktuellen Forschungsstand gegenüber.
Das Werk muss sich am Versprechen seines Titels messen lassen. Der Anspruch, die Methoden offenzulegen, wird nicht erfüllt. Präzise herausgearbeitet werden hingegen die unterschiedlichen Betrachtungsweisen. Den Schlüssel für das analytische Defizit liefert Brandt selbst. Ein zutreffenderer Titel für ihr Buch wäre: Geschichte der Städtebaugeschichte anhand ausgewählter Schriften. Doch offenkundig war der Autorin an der 'Stadtbaukunst' gelegen, die in den letzten Jahren neuerlich zum Modebegriff avanciert ist. Die polemische, autoritative Nuance, die heute in diesem Wort mitschwingt - und wohl auch schon vor 100 Jahren bei Brinckmann anklang -, steht einer unvoreingenommenen wissenschaftlichen Reflexion diametral entgegen.
Tom Steinert