David F. Elmer: The Poetics of Consent. Collective Decision Making and the Iliad, Baltimore / London: The Johns Hopkins University Press 2013, XV + 313 S., ISBN 978-1-4214-0826-2, GBP 28,50
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David Elmer hat seinem Buch einen treffenden Titel gegeben: "The Poetics of Consent" ist eine im Spannungsfeld von Philologie und Geschichte angesiedelte Analyse deliberativer Akte und kollektiver Entscheidungen. Die Arbeit ist auf die Begriffe epainos und epainein fokussiert, mit denen an zahlreichen Stellen der Ilias die Zustimmung der Menge auf die Rede eines basileus zum Ausdruck gebracht wird. Die vom Dichter dafür verwendeten Formeln, die Elmer in seinem ersten Kapitel (21-47) untersucht, lassen eine Grammatik unterschiedlicher Grade von Konsens erkennen, Textformeln, die vom Schweigen der Menge bis eben zum epainein als lobende, Anerkennung gewährende Zustimmung reichen. Die Begriffe lohnen eine eingehende Wortfeldanalyse, da epainos und epainein allein in deliberativen Situationen gebraucht werden, bis auf eine Ausnahme auf Seiten der Achäer und der olympischen Götter. Epainos kennzeichnet - so Elmer - die Bestärkung des sozialen und politischen Zusammenhalts, und markiert beim Konsens von Sprechern und Zuhörern die Umsetzung von Rede in Aktion (49).
Den vom Dichter verwendeten, den Konsens bekundenden Formeln schreibt Elmer eine große Bedeutung zu, da sich über sie die innere Struktur und die Grammatik der epischen Erzählung entschlüsseln lassen. In der Ilias werde ein Bogen gespannt, der mit der Weigerung Agamemnons beginnt, das Angebot des Priesters Chryses zur Auslösung der Tochter anzunehmen, wie es das Volk gewollt hatte, und der im 23. und 24. Gesang durch die Leichenspiele für Patroklos und die Verhandlungen um die Auslösung von Hektors Leichnam einen Abschluss findet.
Mit Verweis auf die historischen Interpretationen von M. Finley, E. Cantarella, K.-J. Hölkeskamp und P. Carlier zeigt Elmer an Hand der 'Poetik der Zustimmung' auf, wie zu Beginn des Epos der Starrsinn Agamemnons und seine Brüskierung Achills, von dem er Briseis als seine Beutefrau fordert, die Griechen vor Troja in eine krísis stürzt. Die Szene dürfe aber nicht als unmittelbares Abbild einer politischen Realität gedeutet werden, die den Schluss zulasse, das Volk hätte keinen Einfluss auf die Entscheidungsfindung ausgeübt. Denn der Dichter wollte, um Dramatik zu erzeugen, die Gemeinschaft der Griechen in einen "Ausnahmezustand" versetzen. Überschrieben ist das dritte Kapitel, das sich mit diesen Vorgängen im ersten Gesang beschäftigt, daher mit dem Titel "Achilles and the Crisis of the Exception" (63-85). Im Fortgang der Handlung erweist sich, dass Agamemnon das epainein des Volks nicht einfach beiseiteschieben konnte, ohne dass dies Konsequenzen hätte. Schnell musste er einlenken und Chryseis herausgeben.
Die folgenden Gesänge lassen, wie Elmer in den weiteren Kapiteln zeigt, den schrittweisen Weg zur Wiederherstellung der normativen Ordnung nachvollziehen, und zwar gerade in solchen Szenen, in denen epainein in deliberativen Situationen gebraucht wird, so gleich im zweiten Gesang, dem das vierte Kapitel gewidmet ist (86-104). Mit seinem Plan, die Truppen vor Troja auf die Probe zu stellen, löst Agamemnon eine weitere "crisis of the exception" aus, die aber durch den Zuspruch des Odysseus und der anderen basilees behoben werden kann, weil sie das in Auflösung befindliche Heer von den Schiffen zurückholen und die Ordnung wiederherstellen. Ordnung bedeutet auch, dass das Heer in die einzelnen Kontingente unter ihre jeweiligen Anführer tritt, so wie dies im Schiffskatalog dargelegt ist.
Wie mühsam der Weg zurück zur normativen Ordnung ist, lässt sich auch an der Gesandtschaft verdeutlichen, die Achill zum Wiedereintritt in den Kampf bewegen soll. Ihm wird in reichem Maße eine Kompensation für die erlittene Zurücksetzung geboten, doch lassen sich die Regeln der Wiedergutmachung zu diesem Zeitpunkt noch nicht wieder herstellen - Achill lehnt das Angebot ab (78-85). Erst im 23. und 24. Gesang, denen sich Elmer in Kapitel 8 (177-203) zuwendet, gelingt es, die Spannung von Norm und Devianz aufzulösen. Mit den Leichenspielen für Patroklos und den Verhandlungen zwischen Achill und Priamos um die Auslösung von Hektors Leiche sind die Regeln der Kompensation für Ehrverletzungen wiederhergestellt. Dem Epos kommt also eine wichtige normative Bedeutung zu; die Verhaltensregeln werden den Zuhörern gerade in solchen Szenen ins Bewusstsein gebracht, in denen normale Entscheidungsprozesse suspendiert sind.
Elmer hat ein äußerst anregendes Buch vorgelegt, das stringent und von einem philologischen Ansatz aus Phraseologie und Semantik (in Kapitel 3 auch die Etymologie) von epainos und epainein konsequent als Reflexionsebene eines Diskurses über Norm und Devianz auswertet. Insbesondere was die nuancierten Grade von Zustimmung oder Ablehnung der Menge anbetrifft, die sich in verschiedenen Formeln niederschlagen, und was die vielfältigen inneren Beziehungen zwischen verschiedenen Szenen im Fortgang der Handlung anbetrifft, ist der Arbeit eine breite Rezeption auch in der althistorischen Forschung zu wünschen.
Auf die Frage, welche Macht die basilees und das Volk in deliberativen Situationen haben, gibt Elmer keine einfache Antwort. Er wendet sich gegen die Annahme, das Volk sei weitgehend von der Entscheidungsfindung ausgeschlossen gewesen: die Zustimmung des Volkes sei "not only sufficient to produce collective action (...), but also, at least in some circumstances, necessary" (6). Nach seiner Ansicht sei epainos und epainein des Volkes auch im Prozess der Entscheidungsfindung von grundlegender Bedeutung. Da die Mehrheitsentscheidung in den homerischen Epen noch fehle, vollziehe sich der Übergang von Rede zu Aktion in anderen, aber normativ geregelten Bahnen. Elmer geht dabei nicht davon aus, dass die Gemeinschaft eine homogene Einheit darstellt; sie ist vielmehr durch horizontale und vertikale, also hierarchische, Beziehungen geprägt und unterliegt mitunter einem ausgeübten Zwang, doch im epainein tritt die Kohäsion dieser Gruppe als Vision von Gemeinschaft in Erscheinung (92f.).
Anregen lassen hat sich Elmer von Sartoris und Flaigs Ansatz, politische Ordnungen als Konsenssysteme oder Systeme mit Mehrheitsentscheidungen zu kategorisieren. Elmer ist skeptisch, ob sich diese Kategorisierung auf die homerischen Epen anwenden lässt. 'Consent' (epainos), wie Elmer das Wort versteht, kommt nicht durch Beratung, Kompromisse und vertagte Entscheidungen zustande, sondern dann, wenn die basilees die normativen Regeln einhalten, Kompensationen für verletzte Ehre leisten und anzunehmen bereit sind und wenn ein Zustand verletzter Regeln wieder in eine Ordnung überführt wird. Der Handlungsplot der Ilias zeige den Sieg des Normativen über deviantes Verhalten.
Wünschenswert wäre eine Einbeziehung der Arbeiten von F. Gschnitzer gewesen, der sich nicht nur dezidiert mit der homerischen Volksversammlung, ihrer "decision-making power" und beginnender Staatlichkeit auseinandergesetzt hat, sondern dies auch verbunden hat mit der Warnung, nicht die vordergründige Handlung des Epos zur Richtschnur zu nehmen, sondern zentrale Begriffe und ihre semantische Bedeutung, eben weil das Epos normwidriges Handeln, nach Elmer die "crisis of the exception", als Spannungselement braucht [1].
Für die Diskussion über die Entscheidungsfindung im Epos hat Elmer einen stimulierenden und wichtigen Beitrag aus philologischer Sicht vorgelegt. Ob ihm die altertumswissenschaftliche Forschung in seiner Ansicht folgt, dass die Gemeinschaft großen Anteil an der Entscheidungsfindung und eine Verantwortung bei der Wahrung der traditionellen Normen hat, wird die weitere Diskussion zeigen.
Anmerkung:
[1] Die Beiträge sind zusammengestellt in: F. Gschnitzer: Kleine Schriften zum griechischen und römischen Altertum, Bd. 1, hrsg. von C. Trümpy und T. Schmitt, Stuttgart 2001, 142 ff.
Winfried Schmitz