Karl R. Kegler: Deutsche Raumplanung. Das Modell der "Zentralen Orte" zwischen NS-Staat und Bundesrepublik, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2015, 645 S., ISBN 978-3-506-77849-9, EUR 79,00
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Karl R. Kegler hat ein bemerkenswertes Buch vorgelegt - und ein mutiges dazu, wenn man bedenkt, dass es sich um seine Dissertation handelt. Die Studie besteht, genau genommen, aus zwei Büchern: Zum einen verfasst Kegler als gelernter Stadtplaner eine Streitschrift, die hart mit dem Modell der "Zentralen Orte" und seinem Urheber, Walther Christaller, ins Gericht geht. Zum anderen arbeitet Kegler in seiner Eigenschaft als Historiker die Rezeption dieses Modells in der NS-Zeit und in der Bundesrepublik auf. Und da es sich um ein Konzept handelt, das für Raumordnung und Landesplanung konstitutiv war und ist, erzählt er deren Geschichte - als "Problem- und Diskursgeschichte der deutschen Raumplanung" (41) - gleich mit. Dem Leser wird also auf den knapp 500 Seiten Text und 100 Seiten Anmerkungen einiges geboten.
Die Untersuchung, die in drei Abschnitte gegliedert ist, oszilliert zwischen Zeit- und Wissenschaftsgeschichte, Raumordnung und Landesplanung. Kegler will klären, warum Christallers Modell "trotz der benennbaren schwerwiegenden theoretischen Mängel in ganz unterschiedlichen Gesellschaftssystemen zu einem weithin akzeptierten theoretischen und normativen Instrument der Wissenschaft und Planungspraxis wurde" (11).
Im ersten Abschnitt - "Die geplante Ordnung" - setzt sich Kegler zunächst intensiv mit Christallers Modell der "Zentralen Orte" auseinander und moniert dabei innere Widersprüche, verdeckte Implikationen und fehlende Plausibilität, unverstandene Prämissen, die Unvereinbarkeit der Grundprinzipien sowie die unzureichende (empirische) Verifikation. Daran anschließend ordnet er das Modell in seinen historischen und ideengeschichtlichen Kontext ein: Die als krisenhaft wahrgenommene Entwicklung der Moderne nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg, die mit großen sozialen und ökonomischen Verwerfungen einherging. Christallers Antwort bringt Kegler auf die Kurzformel "Binnenkolonisation durch Raumordnung" (124). Raumplanung stellte mithin einen Versuch dar, "Souveränität über komplexe wirtschaftliche und soziale Einflussfaktoren zurückzugewinnen, in denen die Zeitgenossen die Ursache für die krisenhaften Verwerfungen ihrer Gegenwart erblickten" (477).
Der zweite Abschnitt ("Geometrie für den totalen Staat") behandelt die Modifizierungen des Modells im Sinne der braunen Machthaber, die Christaller selbst bereitwillig vornahm, und seine Anwendungen im "Dritten Reich". Der Durchbruch kam mit dem Vernichtungskrieg, als Christallers Modell "zu einem wichtigen methodischen Instrument für die Neuordnung Osteuropas, Lothringens und des Elsass in den Germanisierungs- und Modernisierungsplänen der SS" (297) avancierte. Die geografische Einteilung in zentrale Orte unterschiedlicher Hierarchiestufen wurde "zum methodischen Werkzeug für die Implementation einer autoritären Ordnungshierarchie, die einerseits in den Augen der NS-Planer raumwirtschaftliche und bevölkerungspolitische Effizienz garantiert, andererseits in den eroberten Gebieten, deren Bevölkerung durch germanische Umsiedler verdrängt werden soll, die Grundlage für andauernde Raumbeherrschung schafft" (298). Kegler erklärt den "Erfolg des Zentrale-Orte-Modells in der NS-Raumordnung" mit "seiner weitreichenden Übereinstimmung mit wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Wunschbildern" (306). Die Bedeutung von Christallers Modell für die NS-Planung sieht er darin, "dass es ideologisch-volksorganische Ziele auf eine Weise zu verwirklichen versprach, die sich auf die 'technokratische' Effizienz moderner Wissenschaft berufen konnte" (307).
"Von Ordnung zum Ausgleich" ist der dritte Abschnitt überschrieben, in dem es um die Raumplanung in der Bundesrepublik geht. Nach 1945 diente Planung zunächst als Instrument zur Bewältigung der westdeutschen "Nachkriegskrise" (Hans Günter Hockerts), wobei man an Leitvorstellungen und Wunschbilder der 1930er-Jahre anknüpfte. Im Zeichen des Flüchtlingszustroms, der sich in strukturschwache ländliche Regionen ergoss, ging es in erster Linie um die Verbesserung ihrer "Tragfähigkeit". Mit dem einsetzenden "Wirtschaftswunder" änderten sich die Rahmenbedingungen binnen weniger Jahre indes vollkommen: Die zuvor "überbelegten" Landstriche erlebten im Zuge forcierter Urbanisierung massive Bevölkerungsverluste, die als "Entleerung" abermals krisenhaft wahrgenommen wurden. Nun galt es für die Planer, einer "negativen Vermassung" vorzubeugen. In beiden Fällen griffen sie auf Christallers Modell der "Zentralen Orte" zurück, deren Förderung mit der Verabschiedung des Bundesraumordnungsgesetzes von 1965 endgültig zur Mantra der westdeutschen Raumplanung wurde.
Eine Erklärung des abermaligen Erfolges von Christallers Konzept sieht Kegler darin, "dass 'zentrale Orte' zu einer Kompromissformel" geworden seien, "auf die sich unterschiedliche Gruppen und Disziplinen berufen können, ohne notwendig damit das gleiche meinen zu müssen. Die durch Christallers theoretisches Unvermögen bedingte Unschärfe des Modells wird auf diese Weise eine Ursache für dessen Erfolg." (468) Die personelle und inhaltliche Kontinuität der Raumplanung vor und nach 1945, die Kegler in diesem Abschnitt betont, ist zwar weder überraschend noch als Erkenntnis besonders neu. Hier wie dort stand die Schaffung vergleichbarer Lebensbedingungen in Stadt und Land ganz oben auf der Agenda der Planer. Zu Recht verweist Kegler indes auf einen wesentlichen Unterschied: "In der ideengeschichtlichen Entwicklung nach dem Krieg stellt die Selbstverpflichtung auf die Inhalte des Grundgesetzes, Rechtsstaatlichkeit und Chancengleichheit einen einschneidenden Bruch mit noch latent vorhandenen technokratischen und autoritären Anschauungen in der Raumplanung dar. Der rechtliche Rahmen des Grundgesetzes ist die entscheidende Instanz, die Raumplanung in der Bundesrepublik von den technokratischen Herrschafts- und Machbarkeitsutopien des NS-Staates unterscheidet." (484)
Kritik verdient der von Kegler gewählte Untersuchungszeitraum, genauer: dessen Endpunkt 1969. Damit liegt die kommunale Gebietsreform der 1960er- und 1970er-Jahre, die sich stark auf Christallers Modell bezog - immerhin hing von der Frage, ob einer Gemeinde eine zentralörtliche Funktion zuerkannt wurde oder nicht, nicht selten deren weitere politische Existenz ab - zum größten Teil nicht mehr im Fokus der Studie. Das ist schade, denn gerade hier lässt sich die praktische Relevanz von raumordnungspolitischen Theorien, auf denen weitreichende Entscheidungen basieren, mit Händen greifen. Unklar bleibt darüber hinaus, was genau typisch deutsch an der "deutschen Raumplanung" gewesen ist. Um diese Frage zu beantworten, hätte eine intensivere Untersuchung der Rezeption von Christallers Modell im Ausland erfolgen müssen, als Kegler sie im Rahmen seiner Studie leisten kann.
Im Vergleich zu den Vorzügen der Studie verblassen diese Einwände jedoch. Karl R. Kegler hat ein lesenswertes und über weite Strecken auch gut lesbares Buch geschrieben, das an der Schnittstelle einer Reihe von Disziplinen liegt. Ihre besondere Stärke bezieht die Analyse aus der Doppelqualifikation ihres Autors als Stadtplaner und Historiker: Kegler ist mit dem methodischen Instrumentarium wie auch dem Diskurs der Planer ebenso vertraut wie mit dem der Geschichtswissenschaft. Auf der Basis intensiver Quellen- und Literaturrecherchen gelingt es ihm, den Forschungsstand in beiden Disziplinen voran zu bringen. Last but not least birgt die Studie Brisanz für die Gegenwart: Das Konzept der "Zentralen Orte" zählt nämlich nach wie vor zu den Kernbestandteilen von Raumordnung und Landesplanung in der Bundesrepublik. Insofern dürfte es besonders spannend sein, wie Keglers Buch in diesen Kreisen aufgenommen und rezipiert wird.
Jaromír Balcar