Tina Kwiatkowski-Celofiga: Verfolgte Schüler. Ursachen und Folgen von Diskriminierung im Schulwesen der DDR (= Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung; Bd. 54), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014, 437 S., ISBN 978-3-525-36966-1, EUR 69,99
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Untersuchungen zur Schul- und Bildungsgeschichte der DDR waren lange Zeit eine Domäne von Erziehungswissenschaftlern und Soziologen; erst in jüngerer Zeit haben sich auch Historiker dieses Themas angenommen. Tina Kwiatkowski-Celofiga setzt diesen Trend mit der vorliegenden Arbeit fort, die als Dissertation an den Universitäten Augsburg und Leipzig entstand. Im Zentrum der Untersuchung stehen, wie aus dem Titel hervorgeht, "verfolgte Schüler", ein Begriff, den die Autorin den nach dem Ende der DDR vom Deutschen Bundestag verabschiedeten Rehabilitierungsgesetzen für Opfer politischer Verfolgung entlehnt hat. In dem Bewusstsein, dass mit der engen juristischen Definition jenes Begriffs nicht alle Formen von Diskriminierung erfasst werden können, will sie ihn weiter fassen und definiert "verfolgte Schüler" als "Jugendliche [zwischen 14 und 25 Jahren], gegen die politisch motivierte Diskriminierungen im Erziehungs- und Bildungswesen der DDR ergingen" (11). Von dieser Definition ausgehend geht Kwiatkowski-Celofiga der Frage nach, "inwieweit die SED ihren Machtanspruch mithilfe des Erziehungs- und Bildungssystems gegenüber Kindern und Jugendlichen durchsetzte und welche nachhaltigen Folgen das für die Betroffenen hatte" (13 f.).
Grundlage der Untersuchung sind 489 Rehabilitierungsanträge von ehemaligen Schülern aus dem Sächsischen Landesamt für Familie und Soziales, die aus einem Gesamtkorpus von rund 3.670 Anträgen per Zufallsprinzip ausgewählt und mit Zustimmung der Betroffenen ausgewertet wurden. Mit 21 Antragsstellern wurden darüber hinaus Interviews geführt; zusätzlich zieht die Autorin einschlägige Bestände staatlicher Archive heran.
In zwei hinführenden Kapiteln erläutert die Autorin zunächst die ideologischen und rechtlichen Grundlagen des DDR-Bildungssystems und stellt anschließend dessen maßgebliche Akteure (Volksbildungsministerium, Schulräte und -inspekteure, Direktoren, Lehrer etc.) vor. Diese Abschnitte können insgesamt überzeugen und bewegen sich auf der Höhe des Forschungsstandes, sind aber mit 120 Seiten sehr lang geraten und nicht frei von Redundanzen. Die eigentliche Untersuchung beginnt mit Kapitel IV, in dem zuerst verschiedene Formen "abweichenden Verhaltens" als Ursache für Benachteiligung vorgestellt werden, darunter Engagement für die Kirche, Verweigerung der FDJ-Mitgliedschaft und Jugendweihe, pazifistische Einstellung, Kritik an bestimmten Unterrichtsinhalten sowie allgemein nonkonformes Verhalten. Anschließend geht die Autorin auf die unterschiedlichen Maßnahmen zur Diskriminierung ein, die von verweigerten Auszeichnungen und schlechten Beurteilungen über Schulstrafen bis hin zum Ausschluss vom Zugang zu weiterführenden Bildungseinrichtungen reichen konnten. Der mit der Geschichte des DDR-Schulwesens vertraute Leser wird hier wenig grundlegend Neues erfahren, doch kommt Kwiatkowski-Celofiga das Verdienst zu, die Ursachen für Diskriminierung und die daraus resultierenden Sanktionsmaßnahmen erstmals umfassend und differenziert dargestellt zu haben.
Neuland betritt die Arbeit hingegen in den folgenden drei Kapiteln. Zunächst widmet sich die Autorin den Möglichkeiten von Schülern - und Eltern -, sich gegen diskriminierende Maßnahmen zur Wehr zu setzen. Hier nennt sie als mögliche und praktizierte Wege die Beschwerde, die Eingabe sowie Hilfsgesuche an nichtstaatliche Institutionen, insbesondere die Kirche und die Blockpartei CDU. Ein großer Teil der Eingaben betraf die Nichtzulassung von Schülern zur Abiturstufe; ihre Erfolgsaussichten waren im allgemeinen begrenzt, stiegen aber, so Kwiatkowski-Celofiga, "mit der hierarchischen Stellung der Appellationsinstanz", während Hilfsgesuche an die Kirche nur "im Einzelfall" Wirkung gezeigt hätten (318 f.). Als Ursache für die seit Mitte der 1980er "explosionsartig" (320) ansteigenden Eingaben an das Ministerium für Volksbildung machte dieses in DDR-typischer Individualisierung von strukturellen Problemen das "herzlose" und "bürokratische" Verhalten einzelner Mitarbeiter der Volksbildungsverwaltung aus.
Anschließend untersucht Kwiatkowski-Celofiga die langfristigen Folgen der Diskriminierung für die Betroffenen, wobei sie zwischen beruflich-finanziellen und persönlich-gesundheitlichen Folgen differenziert. Die Autorin betont hier den individuell unterschiedlichen Umgang der Betroffenen mit Diskriminierungserfahrungen: Viele versuchten die angestrebten Bildungsabschlüsse auf Umwegen zu erreichen, etwa über eine betriebliche Ausbildung oder den Besuch kirchlicher Bildungseinrichtungen. Nur wenige stellten einen Antrag auf Ausreise aus der DDR. Gravierend waren häufig auch die persönlichen Folgen wie innerfamiliäre Konflikte, Veränderungen im persönlichen Umfeld sowie ein grundlegender Vertrauensverlust gegenüber staatlichen Institutionen und Mitmenschen. Im letzten Kapitel schließlich befasst sich die Studie mit Möglichkeiten und Grenzen der Rehabilitierung nach 1990, wobei Kwiatkowski-Celofiga deutlich macht, dass die entsprechenden Gesetze die "Hoffnung auf eine Anerkennung und eine angemessene Entschädigung der Benachteiligung [...] nur bedingt" erfüllen konnten (387), wofür nicht zuletzt ausschlaggebend war, dass der Gesetzgeber die hohen Kosten einer umfassenderen Entschädigung scheute. Zu Recht macht sie zudem auf die Unterschiede zwischen den Generationen aufmerksam, denn nur für die jüngeren Jahrgänge war ein Nachholen der aus politischen Gründen verhinderten Bildungskarriere sinnvoll.
Tina Kwiatkowski-Celofiga hat eine insgesamt überzeugende Arbeit vorgelegt, die die bisherigen Erkenntnisse zum Schulwesen der DDR um wichtige Aspekte erweitert. Als innovativ und produktiv erweist sich insbesondere die Verbindung von DDR-Geschichte mit der Geschichte der - juristischen und verwaltungsmäßigen - Aufarbeitung. Auch die Verknüpfung von quantitativer und qualitativer Auswertung der Rehabilitierungsakten überzeugt größtenteils, wenngleich man der Autorin an mancher Stelle mehr Mut zur zuspitzenden Thesenbildung gewünscht hätte. Zudem hätte dem Manuskript eine Straffung gutgetan, insbesondere mit Blick auf den teilweise überbordenden Fußnotenapparat.
Henrik Bispinck