Horst Bredekamp / Claudia Wedepohl: Warburg, Cassirer und Einstein im Gespräch. Kepler als Schlüssel der Moderne, Berlin: Wagenbach 2015, 109 S., 9 Farb-, 31 s/w-Abb., ISBN 978-3-8031-5188-9, EUR 22,90
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Eine flüchtig mit Bleistift gezeichnete Ellipse. Schnittpunkte, Winkelmarkierungen, Richtungsandeutungen. Die in der rechten Bildhälfte zu lesende Anmerkung verrät den Urheber der Zeichnung. Zu lesen ist "V[on]. A[lbert]. Einstein/in Scharbeutz/gezeichnet/S[e]pt[ember] 1928"/W[arburg]. Es ist dies ein Einzelblatt, das unlängst im Warburg Archiv in einer Sammelmappe entdeckt wurde. Es ist gewissermaßen eine visuelle Gesprächsnotiz der Begegnung des Kunst- und Kulturhistorikers Aby Warburg (1866-1929) mit dem Physiker Albert Einstein (1879-1955). Horst Bredekamp und Claudia Wedepohl, derzeitige Leiterin des Archivs des Aby Warburg Institutes in London, nehmen sich diesen Fund zum Anlass, die Rahmenhandlung gedanklich nachzuzeichnen. Schon einmal hat sich Horst Bredekamp mit der Begegnung Aby Warburgs mit Albert Einstein beschäftigt. [1] Im vorliegenden Band wird eine zweite Begegnung mitaufgenommen, die das Material strukturiert und die Schwerpunktsetzung erklärt. Es ist Warburgs Treffen mit dem Philosophen Ernst Cassirer am 10. und 11. April 1924 in Kreuzlingen am Bodensee. Der Ort, an dem sich Aby Warburg im Sanatorium Bellevue von seiner Kriegs-Psychose vom Schweizer Psychiater und ehemaligen Assistenten C.G. Jungs, Ludwig Binswanger, behandeln lässt. Der Ort, der mit Warburgs Vortrag zum Schlangenritual der Pueblo-Indianer verbunden werden sollte und seine intellektuelle Rückkehr besiegeln wird.
Entsprechend wählten die Autoren einen zweigliedrigen Aufbau, der die Bedeutung Keplers im Denken Warburgs aufzeigt und unterstreichen damit, wie der Astronom zur Mittlerfigur im Gedankenaustausch der drei Intellektuellen wird. Bestimmende Grundthese bleibt, dass der in platonischer Tradition stehende Johannes Kepler das Exemplum einer Übergangstype vom mystisch zum wissenschaftlich denkenden Menschen darstellt. "Für ihn [Warburg] war Kepler jener Geist, der sich durch die Mathematik aus den historischen Prägungen der anthropomorph gedachten Bilder als eine 'weiterhin lodernde Aufklärungsfackel' gelöst, auch diesen Sprung aber mit Hilfe der Antike vollzogen hatte" (85). In diesem Zuschnitt bereiten die Autoren die Schilderungen der eigentlichen Treffen und dem Austausch über die Übergangstype Kepler mit einer Einführung zu Warburgs Denkmodell vor. Hierzu werden Warburgs Analysen der Schifanioa Fresken in Ferrara vorgestellt. Die dortigen Spuren eines antiken Sphärenmodells werden konzise gefasst und durch die Forschungen Warburgs zu den Intermedien, welche die Inszenierung der Harmonie der Sphären nach Platons Mythos des Er (Rep. 614-621D) zum Thema haben. Der Analyse und Rückführung des hier anklingenden sphärischen Modells auf den spätantiken Text De Nuptiis Philolologiae et Mercurii widmen die Autoren ein eigenes Kapitel. Es sind dies die Grundpfeiler des intellektuellen Grundgerüsts der Kulturtheorie, die den Kontext des Treffens darstellen und damit auch das Interesse Warburgs begründen, das bisher Erarbeitete im Austausch mit den Kollegen zu erproben.
In physischer Abwesenheit trat Ernst Cassirer in Warburgs Denkraum ein. Während letztgenannter am Bodensee weilt, lernt der Hamburger Universitätskollege Cassirer das "Prinzip der guten Nachbarschaft" in der Warburg'schen Bibliothek kennen und schätzen. Warburgs Bibliothekar Fritz Saxl informiert Warburg stets über den Fortgang Cassirers Forschungen. Die Architektur der Bibliothek mit der ellipsoiden Decke ist gewissermaßen selbst ein Sinnbild der Entanthropomorphisierung des Himmels durch Keplers Einführung der Ellipse als Denkform. Das Kapitel macht die Evidenz der gegenseitigen Einflüsse transparent und zeichnet (dank der in den Korrespondenzen zu findenden Notizen) ein äußerst lebendiges Bild rund um das Treffen der Kollegen zur kulturgeschichtlichen Bedeutung der Ellipse nach. Warburg resümiert etwa in einer Notiz: "Fühle mich nach d[em] Besuch von Cassirer jetzt ziemlich ausgepumpt, weil er zunächst dialektisch-philosophische Bestimmtheit erwartete; das Bildmaterial ist bei ihm sekundär und mir doch die Hauptsache" (47). Die sich hier ausdrückende Differenz zwischen Warburgs Vermutung der "biologischen Notwendigkeit" des Bildes und Cassirers unübersehbarem Typologisierungswillen des Symbols wird nicht weiter ausgeführt. Auch fehlen Hinweise, das Nachleben von Warburgs Denkansatz in den von Cassirer synthetisierten symboltheoretischen Überlegungen im "Zauberberg Bellevue" in der Seinsphilosophie Ludwig Binswangers weiter aufzuspüren, wie dies etwa Ulrich Raulff in seinem Nachwort zu Aby Warburgs Schlangenritual andeutete. [2]
Einstein wird Aby Warburg am 4. September 1928 treffen. Das Gespräch gerät zu einer "Vorhang-Schau des Bilderatlas" (61) und Austausch über die dort angelegte Bildtheorie, zu dessen Prüfstein abermals Johannes Kepler erkoren wird. Wie besonders die Beleuchtung der Arbeiten Warburgs an einer historisch-didaktischen Einführung für die astronomische Abteilung des Deutschen Museums in München eindrucksvoll illustriert. Auch hier sollte sein Grundverständnis von Kepler als Übergangstype unmissverständlich visualisiert werden. "Kepler muss als Endstation so plastisch als Übergangstype zwischen mythischem und mathematischem Denken herausmodelliert werden, daß er nach rückwärts den ganzen Entwicklungsvorgang unwidersprechlich Helle beleuchtet" (54). Mit einem Teil der Bildtafel reist er in das Ostseebad Scharbeutz zu Albert Einstein. Das Geschehen vor der Bildtafel kommentiert Warburg "gespannt wie ein Schuljunge im Kino meinen Bildern folgend und unter steten unerbitterlichen Nachfragen die Stichhaltigkeit meiner Schlüsse prüfte. Nur bei Kepler und der Ellipse habe ich, glaube ich, nicht gut bestanden; ansonsten war er mit mir zufrieden" (72). In diesem Kapitel verweisen Bredekamp und Westpohl pointiert auf die unüberbrückbare methodische Differenz der beiden, trotz der mehrfachen Betonung gerade Warburgs, dass das Gespräch zwischen Physiker und Kulturtheoretiker auf Augenhöhe stattgefunden hätte.
Der Band schließt mit einem Autografen Einsteins, der - wenn auch gedanklich auf den zweiten Blick - den Bogen zur eingangs erwähnten Zeichnung schließt. Es ist der Entwurf Einsteins zu einem Artikel, der 1930 in der Frankfurter Zeitung erscheint und mit "Albert Einstein über Kepler" überschrieben ist. Diesen werten die Autoren als eine späte Würdigung Warburgs. Schließlich erwähnt der Artikel eine Zeichnung, die im Artikel selbst nicht abgebildet, ohne diese Referenz jedoch nicht zu denken ist. Der Artikel, der den Prozess der Hypothesenbildung Keplers erklärt, wirkt wie eine Beschreibung dessen, was in der Bleistiftzeichnung flüchtig fixiert wurde. In der Quintessenz wird auch dieser Artikel Warburg und Einstein methodisch nicht versöhnen. Jedoch, so schließen die Autoren: "Es ist nicht ausgeschlossen, dass Einstein in diesem Moment eine erneute Antwort auf Warburgs Fragen zumindest mitformuliert hat" (85).
Vorliegende Arbeit ist eine Rekonstruktion von Schauplätzen des Denkens und der intellektuellen Kreuzungen im kulturwissenschaftlichen Ansatz; eine Lektüre, die im Wagenbach-Verlag einen guten Hafen gefunden hat. Methodisch konsequent wird zu Beginn ein Bild, eine Skizze ins Zentrum gestellt. Die gewählten Forschungsjahre sind bei genauem Hinsehen nicht nur die Geschichte Johannes Keplers als Übergangstype, sondern vor allem eine Geschichte der Übergänge im methodischen Arbeiten Warburgs. Für die Referenzpunkte des Denkens, wählt die Publikation Stationen aus, die den gedanklichen Kosmos des Kulturwissenschaftlers ergänzen und damit mehr als eine weitere Würdigung zu Warburgs 150. Geburtstag darstellen.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Horst Bredekamp: "'4 Stunden Fahrt. 4 Stunden Rede'. Aby Warburg besucht Albert Einstein", in: Michael Hagner (Hg.): Einstein on the beach. Der Physiker als Phänomen, Frankfurt a.M. 2005, 165-182. Zur Vielzahl und Bedeutung der Skizzen Warburgs in dessen Denkraum vgl. auch Thomas Hensel: Wie aus der Kunstgeschichte eine Bildwissenschaft wurde. Aby Warburgs Graphien, Berlin 2011.
[2] Ulrich Raulff: "Nachwort", in: Aby M. Warburg: Bilder aus dem Gebiet der Pueblo-Indianer in Nordamerika, Berlin 1996, 59-95, v.a. 84ff.
Julia Kleinbeck