Rezension über:

Bernhard Schieder: Alltägliche Wirklichkeit als (temporäre) Kunst. Zur Neugestaltung der Beziehung zwischen Kunst und Leben bei Rauschenberg, Kaprow und Oldenburg, Berlin: o.V. 2015, 328 S., ISBN 978-3-00-049442-0, EUR 31,65
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Rezension von:
Clara Wörsdörfer
Johannes Gutenberg-Universität, Mainz
Redaktionelle Betreuung:
Jessica Petraccaro-Goertsches
Empfohlene Zitierweise:
Clara Wörsdörfer: Rezension von: Bernhard Schieder: Alltägliche Wirklichkeit als (temporäre) Kunst. Zur Neugestaltung der Beziehung zwischen Kunst und Leben bei Rauschenberg, Kaprow und Oldenburg, Berlin: o.V. 2015, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 10 [15.10.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/10/28699.html


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Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.

Bernhard Schieder: Alltägliche Wirklichkeit als (temporäre) Kunst

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Wenn im Kontext der Gegenwartskunst Partizipation oder der Auftritt performativer Künste im Museum diskutiert werden, wenn in der Installation gefundenes Material, Malerei und neue Medien zusammengeführt werden - gerade die Kunst um 1960 erweist sich dann als produktiver historischer Horizont, der über das Stichwort der "Entgrenzung" mit zahlreichen Fragestellungen des 21. Jahrhunderts verknüpft werden kann. Mit seinem auf der Dissertation beruhenden Buch "Alltägliche Wirklichkeit als (temporäre) Kunst" [1] differenziert und kontextualisiert Bernhard Schieder das viel gebrauchte Schlagwort der "Entgrenzung". Die Untersuchung entstand während seiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am von der DFG finanzierten Sonderforschungsbereich "Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste" der Freien Universität Berlin, betreut von Michael Lüthy. [2] Anhand der systematischen Analyse der spezifischen ästhetischen Qualitäten ausgewählter Werke dreier bekannter Künstler - Robert Rauschenberg, Allan Kaprow, Claes Oldenburg - widmet sich der Autor der Erhellung einer übergeordneten Frage, nämlich der nach der Neugestaltung der Beziehung zwischen Kunst und Leben.

In den USA richten einige Künstler ab Mitte der 1950er-Jahre ihre Aufmerksamkeit verstärkt auf die Alltagswelt und entwickeln hierfür unterschiedliche künstlerische Praktiken und Formate, die sich durch eine Abwendung von der Werkästhetik und den klassischen Ausstellungsräumen kennzeichnen. In der Forschungsliteratur dominieren laut Schieder bezüglich der historischen Einordnung dieser Phänomene drei Argumentationsweisen: Die erste beziehe die Künstler in starkem Maße auf die historischen Avantgarden und frage in diesem Zuge primär nach dem Gelingen oder Scheitern einer Transformation der Wirklichkeit durch ihre 'Nachfolger' um 1960; die zweite deute diese Kunst als Zeichen der anbrechenden Postmoderne, wobei damit die Tendenz einhergehe, ihr einen generellen Erfahrungsskeptizismus und letztlich Wirklichkeitsverlust zu attestieren; die dritte Lesart betone schließlich die Eigenständigkeit und mache, so etwa bei Barbara Rose, den Zeitgenossen John Cage als entscheidendes Vorbild aus. Es sind diese drei Ansätze, an denen entlang Schieder seine weitere Argumentation entwickelt. Bereits in der Einleitung führt er die Schwachstellen der ersten beiden Lesarten aus. Der pauschalen Verknüpfung von Avantgarde und Neo-Avantgarde, exemplarisch vorgebracht von Peter Bürger, stellt Schieder im Verlauf seines Buches mehrfach den direkten Vergleich einer um 1960 entstandenen Arbeit mit einem Werk der historischen Avantgarden gegenüber. [3]

Schieder selbst fragt anhand von Rauschenberg, Kaprow und Oldenburg danach, "welche Motive mit solchen Praktiken der Entgrenzung zwischen Kunst und Alltäglichem verbunden sind, welche Formen sie aufweisen und welche Konsequenzen für die Rezeptionserfahrung sie zeitigen" (12). Die Eigenständigkeit der künstlerischen Positionen komme im je spezifischen Wirklichkeitsverhältnis zum Ausdruck. Es gehe dabei mitnichten darum, die im Kunstwerk integrierten alltäglichen Phänomene "den willkürlichen Projektionen der Rezipienten zu unterstellen" (27), vielmehr zielten die Künstler darauf ab, einzelne Aspekte dieser Phänomene sowie deren "weiteren gesellschaftlichen Zusammenhang" (27) gezielt in den Fokus zu rücken. Die Beobachtung, "alltägliche Wirklichkeit" zeichne sich vor allem durch Repetitivität aus, greift Schieder im Hauptteil leider nicht mehr explizit auf.

Der Einleitung folgen drei große, mitunter intrikat gegliederte Kapitel, die sich je einem Künstler widmen. Konkrete Vergleiche zwischen Rauschenberg, Kaprow und Oldenburg finden sich dementsprechend im Hauptteil eher punktuell. Mit angenehm klarer Sprache diskutiert der Autor die für den jeweiligen Künstler relevanten Forschungsansätze, entwickelt dann im Zusammenspiel von sehr gelungenen, wenngleich mitunter doch etwas kurz geratenen, Werkanalysen und gezielten Theorieinfusionen eigene Überlegungen. Leider können im Folgenden nur einige Stationen summarisch angerissen werden.

Rauschenbergs "Silkscreen Paintings" befreit der Autor von der Annahme, der Künstler reproduziere hier affirmativ massenmediales Bildmaterial und stelle somit die Erfahrbarkeit von Wirklichkeit qua Medien generell in Frage. Unter Rückgriff auf Crary, Baudelaire und Benjamin - und mithilfe eines Blicks auf Rauschenbergs Atelierpraxis - kennzeichnet er den Rezeptionsmodus der "Silkscreen Paintings" als einen der Zerstreuung und arbeitet deren Wirklichkeitsbezogenheit heraus. In Bezug auf Kaprows Environments, Happenings und mit einem Ausblick auf die Activities konstatiert Schieder die Erweiterung des Erfahrungsbereichs von alltäglichen Gegenständen auf ihre körperliche Erfahrung. Gewinnbringend ist hier vor allem die Überlegung zur fiktionalen Potenz der Werke Kaprows, die über die konkrete sinnliche Erfahrung von Materialien und besonderem Ort hinausführe. Bei der Interpretation von Oldenburgs Arbeiten "The Store" und "Mouse Museum" folgt Schieder einem Forschungsstrang, der die von Oldenburg gesammelten und selbst hergestellten Dinge psychoanalytisch liest, erweitert diesen aber um die Betonung einer "kulturpsychologischen Wende" (196). Über diese realistische Dimension ziele Oldenburg (respektive seine träumende Mickey Mouse, in deren Kopf die Dinge versammelt sind) letztlich auf die Utopie einer neuen, erotischen Einheit von Menschen und Dingen.

Mindestens zwei verbindende Aspekte lassen sich aus diesen Analysen herausarbeiten. Der erste hört sich wenig rasant an, vermag aber gerade in seinem Pragmatismus für die behandelten US-amerikanischen Künste der 1960er-Jahre zu überzeugen: Sie haben eine "wirklichkeitserschließende Dimension" (u.a. 239), verfolgen das Anliegen, die Erfahrung einzelner Facetten der bestehenden Wirklichkeit zunächst einmal überhaupt zu ermöglichen. Der zweite Aspekt betrifft die Tendenz, kunstspezifische Wahrnehmungsweisen temporär und ohne die ästhetische Grenze vollends aufzuheben gerade an solchen Gegenständen und Orten zu praktizieren, die nicht vom Künstler geschaffen wurden - sei es im Zustand der zerstreuten Aufmerksamkeit bei Rauschenberg, sei es in den "liminalen Situationen" (181), die Kaprow provoziert, oder beim Einüben des Ray-Gun-Sehens mit Oldenburg.

Wie sich diese Konstellation nun zu den verschiedenen Realismen und Mimesis-Konzepten der Kunstgeschichte genau verhält, wird von Schieder - auch aufgrund des Fokus auf die historischen Avantgarden - nur mehr gestreift. Seine Eingangsfeststellung, die besprochenen Künstler würden "über das Paradigma der Darstellung oder Nachahmung hinausgehen" (17), greift hier als Abstoßungspunkt etwas zu kurz. Mit Blick etwa auf die Darsteller in Kaprows Aktionen oder Oldenburgs hungrige Cheeseburger bietet sich diese Frage aber - wie Schieders reichhaltige Untersuchung insgesamt - als äußerst fruchtbarer Ausgangspunkt für weiterführende Überlegungen an.


Anmerkungen:

[1] Das Buch ist als Print-on-Demand bei Amazon erschienen - darüber kann man streiten. Bis auf das gänzliche Fehlen von Farbabbildungen ist die sehr ansprechende Gestaltung durch Florian Markl positiv hervorzuheben.

[2] Auf drei in diesem Kontext erschienene Publikationen sei hier hingewiesen: Michael Lüthy / Bernhard Schieder: "Die Kunst und ihr Außen - Am Beispiel von Claes Oldenburgs The Store", in: Zwischen 'U' und 'E': Grenzüberschreitungen in der Musik seit 1950, hgg. von Friedrich Geiger / Frank Hentschel, Bielefeld 2010, 173-194; Lotte Everts / Johannes Lang / Michael Lüthy / Bernhard Schieder (Hgg.): Kunst und Wirklichkeit heute. Affirmation - Kritik - Transformation, Bielefeld 2015; Karin Gludovatz / Dorothea von Hantelmann / Michael Lüthy / Bernhard Schieder (Hgg.): Kunsthandeln, Zürich 2010.

[3] Als zwei Beispiele seien der Vergleich von Rauschenbergs "Silkscreen Paintings" mit Paul Citroens Collage "Metropolis" von 1923 sowie das Heranziehen von Louis Aragons Text "Le Paysan de Paris" zur Kontextualisierung der Sammelpraxis von Oldenburg genannt. Auffällig ist, dass im Verlauf der Untersuchung neben den klassischen Avantgarden aber auch (mehrfach) Walter Benjamin und Charles Baudelaire ins Feld geführt werden - so ist es eigentlich das späte 19. Jahrhundert und dessen Bewältigung zum Beginn des Zwanzigsten, das hier als historische Folie für den Modernisierungsschub um 1960 greifbar wird. Dies wird von Schieder so explizit nicht thematisiert, wäre aber ein interessantes Diskussionsfeld.

Clara Wörsdörfer