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Eva Maria Gajek / Christoph Lorke (Hgg.): Soziale Ungleichheit im Visier. Wahrnehmung und Deutung von Armut und Reichtum seit 1945, Frankfurt/M.: Campus 2016, 334 S., ISBN 978-3-593-50472-8, EUR 39,95
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Rezension von:
Jürgen Finger
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München
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Jürgen Finger: Rezension von: Eva Maria Gajek / Christoph Lorke (Hgg.): Soziale Ungleichheit im Visier. Wahrnehmung und Deutung von Armut und Reichtum seit 1945, Frankfurt/M.: Campus 2016, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 11 [15.11.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/11/27638.html


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Eva Maria Gajek / Christoph Lorke (Hgg.): Soziale Ungleichheit im Visier

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Soziale Ungleichheit, insbesondere Armut und ihre Bekämpfung sind seit Malthus ein Thema der Sozialwissenschaften. Reichtum dagegen erfuhr lange weniger Beachtung, schon gar nicht in der historischen Zunft. Schnell geriet man in den Ruch des Klassenkampfs oder - schlimmer noch - der Kolportage, denn es gab und gibt ein Quellenproblem: Darstellungen bleiben entweder abstrakt und neigen wegen der Eigenheiten der Sozialstatistik zur Nivellierung. Oder sie sind dem Anekdotischen verhaftet, da die Reichen und Superreichen sich selten auskunftsfreudig zeigen; wenn sie kommunizieren, dann oft kalkuliert und in kontrollierten Umgebungen.

Dieses Problem umgehen die Herausgeberinnen und Herausgeber dieses Bandes, indem sie sich methodisch reflektiert den "(An)Ordnungen des Sozialen" (6) widmen: den (massen)medialen und individuellen Konstruktionen und Imaginationen, den Images der Sozialfiguren Armut und Reichtum. Sie historisieren diese beiden "politisch normativen Relationsbegriffe" (12) bewusst nicht separat, sondern beziehen sie aufeinander. Die in der Einleitung als dritter sozialer Raum eingeführte "Mitte" (16) wird nur von zwei Beiträgen ausdrücklich adressiert.

Indem der Band die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts als Kontinuum auffasst und "Westen" und "Ostblock" zugleich betrachtet, liefert er ein interessantes Sample von Studien über die damalige "Erste" und "Zweite" Welt. Allerdings changiert der Zugriff, denn während für den Westen die Massenmedien im Vordergrund stehen, werden für das kommunistische Europa ideologisierte Fachdiskurse und erinnerungsgeschichtliche Perspektiven untersucht. Letzteres neigt dazu, die jüngste Zeitgeschichte primär durch die Brille nostalgischer Narrative zu deuten und zu fest mit der Vorgeschichte von 1989 zu verkoppeln. Gerade mit Blick auf die neoliberale Transformation, wie sie Philip Ther beschrieben hat [1], scheint es dem Rezensenten sinnvoll, Ungleichheit und Ordnungsvorstellungen nach 1990 auch aus eigenem Recht zu untersuchen, ohne automatisch die kommunistische Erfahrung als Referenzrahmen aufzurufen.

Gelegentlich stößt der Ansatz, über die Wahrnehmungsgeschichte auf soziale Ordnungsvorstellungen zuzugreifen, an Grenzen. Erstens bleiben die armen, reichen oder medialen Akteure etwas blass. Zweitens ist mit den verwendeten Quellen der Anspruch, nicht nur zu zeigen "welche Ausschnitte der Sozialphänomene gezeigt werden, sondern insbesondere warum" (15), nicht immer zu realisieren. Unausgesprochen scheinen drittens "die Reichen" regelmäßig männlich zu sein, was leider (außer von Anne Kurr) kaum problematisiert wird. Möglicherweise ist es aber in der gewählten Perspektive angelegt, populäre und mediale (Fehl-)Deutungen und Schwerpunktsetzungen zu reproduzieren. Wie schwer es schließlich ist, generalisierende Schlüsse zu ziehen, offenbaren die zögerlichen Einordnungsversuche der Einleitung: "nicht zuletzt" (13), "nicht unwesentlich" (16) oder gar "nicht allein aber zweifelsohne stark" (21). Solche Formeln demonstrieren den Forschungsbedarf, den die Autorinnen und Autoren mit diesem Band systematisch aufgreifen.

Lu Seegers beschreibt, wie der "Hanseat" als Idealtyp des bundesrepublikanischen Unternehmers etabliert wurde, begünstigt durch ein "Bündnis" (56) mit den in Hamburg konzentrierten Printmedien. Das Beispiel des gescheiterten Aufsteigers Willy Schlieker belegt, wie wichtig der regionale Resonanzraum für Narrative unternehmerischen (Miss-)Erfolgs war. Einen sehr viel größeren Resonanzraum brachten die Fernsehserien "Dallas" und "Denver Clan" zum Klingen. Anne Kurr erklärt deren Erfolg mit dem neuen Format und der innovativen Erzählstruktur. In den Serien erkennt sie "Lückenfüller" in einer bundesdeutschen Fernsehlandschaft, die auf dem "Reichen"-Auge noch blind war.

Rüdiger Schmidt bietet eine Tour de Force durch bundesrepublikanische Deutungen des Leitbilds Mitte. Gestützt auf eine Collage von Fremd- und Selbstdeutungen aus 70 Jahren umkreist er das Phänomen. Sein Fazit, dass die Mitte "vielleicht tatsächlich noch einen Ort der privilegierten Widerspruchsbearbeitung [bilde], für Routinen der Verständigung und des Konflikts, gegebenenfalls aber auch nur den Ort einer eher stillschweigenden Orientierung" (99), lässt den Rezensenten allerdings eher ratlos zurück. Konkreter und von ungeahnter Aktualität sind die Ausführungen von Christian Johann zur Mittelklasse und zur Attraktivität des Populismus als politischer Bewegung in den USA der 1960er-Jahre. Das Streben von Bürokraten und Sozialexperten in Washington nach mehr Effizienz und Zielgenauigkeit untergrub die Legitimität des Wohlfahrtsstaats in der unteren Mittelklasse, die sich als Leistungsempfänger ausgeschlossen sah. Insbesondere George Wallace nutzte diesen Ansatzpunkt unter Rückgriff auf ältere, pejorative Images von Armut. Die Rezeption (teils veralteter) Deutungen von Sozialexperten kann Claudia Roesch auch in der medialen Diskussion über die "Culture of Poverty" mexikanischer Einwandererfamilien zeigen. Teils arbeitete die Berichterstattung strukturelle Ursachen von Armut heraus, teils beschwieg sie diese. Je nach Position wurde die mexikanisch-katholische Familie zum Vehikel der Teilhabe und des Aufstiegs verklärt oder der Weitergabe der Armutskultur bezichtigt.

Interessant an Patryk Wasiaks Beitrag zu "conspicuous consumption" und Entrepreneurship ist, dass er die Wahrnehmungen des nachkommunistischen Polen in die Diskussionen der 1980er-Jahre über Luxuskonsum und individualisierende ökonomische Erfolgsgeschichten zurückverfolgt. Analia Kassabova nutzt außereheliche Mutterschaft in einer Film- und Romananalyse als Sonde für Sagbarkeitsregeln für Ungleichheit im kommunistischen Bulgarien. Nicht völlig überzeugend ist der Ansatz Tatiana Hofmanns, die Strafdrohung gegen tunejadstvo (Nichtstuer, Parasiten), die in der Sowjetunion gegen Dissidenten und Marginale gerichtet war, als Indikator für Wahrnehmungen sozialer Ungleichheit zu nutzen. Das liegt insbesondere an der Quellengrundlage aus juristischen und kriminalistischen Fachzeitschriften, mit der sich gleichwohl der "Gouvernementalität der späten Sowjetzeit" nachspüren lässt.

In Beiträgen zur DDR (Sabine Kittel) und der späten Sowjetunion (Kirsten Bönker) werden Selbstzeugnisse genutzt, um individuelle Konstruktionen von Ungleichheit zu untersuchen. Demnach würden ältere soziale Images nach 1989/90 unter Anmeldung exklusiver Deutungsansprüche adaptiert oder zurückgewiesen. Bönkers Unterscheidung dreier idealtypischer "nostalgischer" Erzählstrategien überzeugt zunächst: Neben einem restaurativen, unkritischen Narrativ stehe ein reflexives, für Ambivalenzen offenes. Hinter dem dritten "synthetisierenden" Idealtyp vermutet der Rezensent allerdings eher einen Realtyp. Der Beitrag zur Sowjetunion verdeutlicht, wie problematisch die Fixierung auf monetären Reichtum ist: Zeitgenössische alternative Marker von Ungleichheit geraten so aus dem Blick, der rückblickende Egalitätsbefund ist vorprogrammiert. Dieses Problem umgeht Jens Giesecke, indem er aus Berichten der Stasi und aus Stellvertreterbefragungen durch Infratest Indikatoren für soziale Ungleichheit in der DDR erschließt, darunter politische Ungleichheit, (begrenzte) Einkommensungleichheit, nicht-marktförmige Arten der Verteilung knapper Güter sowie die Schattenwirtschaft.

Etwas aus dem Rahmen fällt schließlich der Beitrag der Ethnologen Gertraud Koch und Bernd Jürgen Warneken über Selbstdarstellungen von Obdachlosen in Straßenzeitungen. Der Schlussessay des Literaturwissenschaftlers Thomas Hecken zum "Konsum der Reichen" tappt schließlich in die Kolportage-Falle, indem er "feuilletonistisch an[...]deutet oder postuliert" (322). Der von Hecken beschriebene Übergang vom distinktiven Konsum zur Segregation verweist gleichwohl auf Probleme, die künftig an Bedeutung gewinnen werden. Die relationalen Phänomene Armut und Reichtum zusammenzudenken, erweist sich insgesamt als fruchtbarer Ansatz. Man darf auf weitere Publikationen der Beteiligten gespannt sein, die teils an größeren Projekten arbeiten.


Anmerkung:

[1] Philipp Ther: Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa, Berlin 2014.

Jürgen Finger