Nanette Rißler-Pipka: Picassos schriftstellerisches Werk. Passagen zwischen Bild und Text (= Image; Bd. 85), Bielefeld: transcript 2015, 433 S., ISBN 978-3-8376-3177-7, EUR 34,99
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Durch die 1989 von Marie-Laure Bernadac und Christine Piot herausgegebene Gesamtausgabe von Pablo Picassos schriftstellerischem Werk wurde in der mannigfaltigen Picasso-Forschung ein neuer Fokus auf ein bis dahin unerschlossenes Untersuchungsfeld gerichtet, das sich jedoch erst seit der Jahrtausendwende im wissenschaftlichen Diskurs vollständig etablierte und ausdifferenzierte. [1] Neben Enrique Mallén (Sam Houston State University / Texas), Androula Michaël (Université de Picardie Jules Verne / Amiens) und Kathleen Brunner (University Washington / Seattle) gehört Nanette Rißler-Pipka (Katholische Universität / Eichstätt-Ingolstadt) zu den führenden Akteuren auf diesem in der Picasso-Forschung noch vergleichsweise "jungen" Terrain. Der von ihr gemeinsam mit Gerhard Wild (Goethe-Universität / Frankfurt am Main) 2010 herausgegebene Tagungsband "Picasso - Poesie - Poetik. Picassos Schaffen aus literatur-, sprach- und medienwissenschaftlicher Sicht" stellte in diesem Zusammenhang in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Picassos schriftstellerischem Werk ein Novum dar im Versuch, die unterschiedlichen kunsthistorischen, linguistischen sowie literatur- und medienwissenschaftlichen Ansätze zusammenzufassen und in Dialog miteinander zu setzen.
In ihrer nun im vergangenen Jahr im Bielefelder Transcript Verlag erschienenen Habilitationsschrift "Picassos schriftstellerisches Werk. Passagen zwischen Bild und Text" bündelt Rißler-Pipka ihre reichhaltigen Forschungsergebnisse zu einer homogenen Analyse von Picassos schriftstellerischem Werk. Die Besonder- und Neuheit der vorliegenden Studie besteht darin, dass Rißler-Pipka weder Picassos Texte - wie bereits häufig geschehen - aus einer rein kunstwissenschaftlichen Perspektive, als Erweiterung seines bildkünstlerischen Werkes mit anderen Mitteln interpretiert, noch einer strikt strukturalistisch-semiotischen Lektüre unterzieht, die Picassos Schriften auf die intratextuellen Verfahren ihrer Hervorbringung reduziert.
Rißler-Pipka hingegen richtet ihren Analyseschwerpunkt auf die intermedialen Text-Bild-Beziehungen, die Picassos Schriften charakterisieren, als auch ihre intermedialen Kontexte, in die diese Texte mit anderen Bildmedien treten. Dabei differenziert Rißler-Pipka insgesamt zwischen neun verschieden Typen der zwischen Bild und Text okkurierenden intermedialen Bezugnahme, die Picassos Werk strukturell aufweist: von visuellen Gedichten über die Mitarbeit in Zeitschriften, von der Illustration eigener und fremder Gedichte und Theaterstücke, über Fremd- und Eigenzitate, bis hin zur Markierung und Überwindung der ontologischen Differenz zwischen "geistigem" und "materiellem" Bild. Ein anschauliches Beispiel für Rißler-Pipkas hier demarkierten Untersuchhorizont repräsentiert das Kapitel 3.3 "Im Labyrinth von Bild und Text: Die surrealistische Zeitschrift Minotaure", in der die Autorin nicht allein Picassos Texte für "Minotaure", sondern auch seine bildkünstlerischen Werke für die surrealistische Zeitschrift in ihrem jeweiligen intermedialen Kontext analysiert (130-164).
Eine intellektuelle Herausforderung repräsentiert bei dem von Rißler-Pipka angewandten intermedialen Analyseansatz ihr spezifisches Verständnis des "Zwischenraumes" zwischen Bild und Text, den sie im Anschluss an Walter Benjamin als "Passage" begreift. Rißler-Pipka interpretiert Benjamins komplexen im Passagenwerk entwickelten Bildbegriff als räumliche Metapher ("Bildraum") für die Interaktion zwischen Text, Bild und Leser, der die theoretische Grundlage für ihre Interpretation des schriftstellerischen Werkes Picassos bildet: "Die leitende Fragestellung für die folgenden Einzelanalysen muss daher lauten: Wie gelingt es Picasso mit sprachlichen Mitteln, diesen Bildraum zu generieren, der als Passage zwischen Bild und Text, zwischen Text und Leser eben jenes Zwischen ausstellt, das medienphilosophisch von Tholen als 'von keinem Medium unheilbare Kluft zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem' beschrieben wird" (13).
In dem auf den einleitenden Theorieteil folgenden ersten Hauptkapitel (85-191) erörtert Rißler-Pipka intensiv Picassos Schriften im Kontext des Surrealismus. Dabei weist die Autorin auf die surrealen Merkmale der Texte Picassos hin, die sich jedoch in ihrem konstruktiven Charakter, einer "planvollen Écriture automatique" (106), dem surrealistischen Prinzip eines rein assoziativen, psychisch-automatischen Textverfahrens verweigern: "Indem er die Sprache nutzt, ohne sich an deren Regeln zu halten, indem er die Musikalität der Lyrik und die Form des Prosagedichts nutzt, ohne sich an deren Regeln zu halten, indem er die Metaphorik nutzt, ohne wirklich eine Metapher zu bilden - schafft Picasso das Neue, findet er den Weg in die Surrealität" (109).
Im zweiten Hauptkapitel (193-382) spürt Rißler-Pipka den spanischen Ursprüngen in Picassos Texten nach und erörtert im Anschluss an die wegweisenden Studien Gustav Réne Hockes [2] über die enge stilistische Verwandtschaft der künstlerischen Verfahren von Manierismus und Surrealismus eingehend den Einfluss der Metaphorik und Emblematik des spanischen Barocklyrikers Luis de Góngora auf Picasso.
Im abschließenden Kapitel "Die Poetik der Metamorphose" diskutiert Rißler-Pipka intensiv Picassos Metamorphose-Begriff, der sich insbesondere im seriellen als auch bewusst non-finiten Charakter seines grafisch-buchillustrativen Werkes (Ovids "Metamorphosen" und Balzacs "Das unbekannte Meisterwerk") manifestiere und in der berühmten lithografischen Balzac-Porträtserie kulminiere, in der sich die "Transformation vom Bild zum Schriftzeichen" (401) bei der Betrachtung vollziehe.
Nanette Rißler-Pipkas großer Verdienst besteht - trotz der Schwierigkeit des auf einem begrifflichen Instrumentarium der Denkmodelle Walter Benjamins basierenden Untersuchungsansatzes - in der umfassenden Analyse des schriftstellerischen Werkes Pablo Picassos, die insbesondere durch das detail- und kenntnisreiche "Close Reading" der Texte Picassos gekennzeichnet ist, das auch immer deren kulturellen als auch intermedialen Kontext mitdenkt. Großes Lob verdient auch der komplexe bildredaktionelle Anteil an der vorliegenden Studie, in dem Rißler-Pipka mit nahezu 150 Abbildungen ihre Untersuchungsergebnisse für den Leser vorbildlich visualisiert. Lediglich ein Namensindex könnte die wissenschaftliche Lektüre des Buches noch optimieren. Rißler-Pipkas Habilitationsschrift repräsentiert einen entscheidenden Beitrag zur Erforschung des Mediums "Sprache" in Picassos reichhaltigem Œuvre, eine Übersetzung der lesenswerten Untersuchungen Rißler-Pipkas ins Englische würde zu einer Bereicherung des internationalen wissenschaftlichen Diskurses über Picassos schriftstellerisches Werk beitragen.
Anmerkungen:
[1] Pablo Picasso: Écrits, hgg. v. Marie-Laure Bernadac / Christine Piot, Paris 1989.
[2] Gustav Réne Hocke: Die Welt als Labyrinth. Manier und Manie in der europäischen Kunst, Hamburg 1957.
Alexander Gaude