Sven Page: Der ideale Aristokrat. Plinius der Jüngere und das Sozialprofil der Senatoren in der Kaiserzeit (= Studien zur Alten Geschichte; Bd. 24), Heidelberg: Verlag Antike 2015, 407 S., ISBN 978-3-938032-95-4, EUR 82,90
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Sven Page unternimmt in seiner an der Universität Darmstadt entstandenen Dissertation eine Analyse des soziopolitischen Systems des römischen Principats. Als heuristisches Vehikel hierfür dient ihm der jüngere Plinius, welchen Page als typischen Vertreter der Senatsaristokratie der trajanischen Zeit identifiziert. Denn die in über 300 Briefen, dem Panegyricus und einer Reihe von Inschriften nach außen projizierten Handlungen und Einstellungen des Plinius ließen dessen Sozialprofil deutlicher werden als das irgendeines Zeitgenossen. Dabei sei als 'Sozialprofil', dies ist die Essenz von Pages Definition jenes für die Arbeit zentralen Begriffs, "die Gesamtheit aller Merkmale einer Person zu verstehen, welche als Rollenträger innerhalb einer gesellschaftlichen Gruppe existiert und wirkt." (75) Das von Plinius projizierte, von uns rekonstruierbare Sozialprofil erlaube demnach eine systematische Rekonstruktion der Werte, Normen und Handlungsmaximen der Senatsaristokratie, nach welchen deren Mitglieder auf verschiedenen Feldern von Betätigung und Bewährung ihr Leben - zumindest idealerweise - ausrichteten. Das plinianische Werk sei dabei als der Versuch zu verstehen, den Eliten der trajanischen Zeit ein Rollenvorbild zu formulieren.
Nach einer kurzen Einleitung, welche die Relevanz des Gegenstandes und die Methode des Vorgehens umreißt, widmet sich Page in den folgenden zwei umfangreichen Abschnitten seines Werkes einer kritischen Darstellung des Forschungsstandes sowie einer ausführlichen Analyse und Bewertung des für seine Untersuchung zur Verfügung stehenden Quellenmaterials. So zeichnet das zweite Kapitel "Der Stand der Forschung" (17-50) wesentliche Großdeutungen der Principatsordnung nach. Dabei differenziert Page nach drei unterschiedlichen, wiewohl eng miteinander verbundenen Zugriffswegen - eine Differenzierung, deren Vorteile im besprochenen Werk immer wieder deutlich werden: dem systemspezifischen Zugriff, welcher bemüht ist, die politische Principatsordnung als Ganze in den Blick zu nehmen; dem gruppendynamischen, welcher sich der soziopolitischen Existenz der Senatsaristokratie widmet; und dem biographisch-individuellen, der auf die Person des jüngeren Plinius ausgerichtet ist. Selten wurden die Zusammenhänge und Unterschiede der Modelle etwa von Millar, Eck, Flaig und Winterling wie von Alföldy, Lendon, Stein-Hölkeskamp und Eich in solcher Klarheit und Präzision vorgeführt. Die Lektüre dieses Überblicks ist gerade als ein Einstieg und Schneisenschlag in die vielfältige Forschungslandschaft zur soziopolitischen Ordnung des Principats und seiner Führungsschicht uneingeschränkt zu empfehlen. Das dritte Kapitel "Quellen und Methodik" (51-77) widmet sich Fragen der spezifischen Auswertbarkeit der von beziehungsweise über Plinius erhaltenen Quellenzeugnisse. Hier überzeugen etwa Pages differenzierte Ausführungen zum Charakter der Briefe und deren Funktion als eines Mediums der genuin politischen Kommunikation; und zum Panegyricus als einer Momentaufnahme des fortlaufenden Verständigungsprozess zwischen Kaiser und Senat.
Die folgenden Kapitel 4 bis 8 widmen sich ausführlich den von Page als für das Sozialprofil eines kaiserzeitlichen Senators relevant identifizierten Feldern der Betätigung und Selbstdarstellung. Zunächst ist dies die - im engeren Sinne - politische Betätigung (78-143), zu welcher Page auch die militärische Bewährung zählt. Herzstück dieses Kapitels ist die Analyse des cursus honorum des Plinius. Hier sind Pages differenzierte Ausführungen zur Komplexität und Variabilität des politischen Raumes, in welchem einzelne Principes durchaus Akzente setzen konnten, hervorzuheben. Es folgt ein Kapitel zu verschiedenen Aspekten der senatorischen Standesidentität (144-171), von denen Page sich vor allem der argumentativen Kraft der Vergangenheit im Principat und Plinius' Darstellung der seiner Zeit angemessenen senatorischen Tugenden widmet wie ferner auch der Frage nach Definition und angemessenem Verhältnis von otium und negotium. Das Kapitel 6 wertet die Aussagen des Plinius bezüglich seiner patronalen Verpflichtungen aus (172-246), die hier völlig plausibel als wesentliche Facetten der nach außen strahlenden Selbstinszenierung und damit als genuin politische Stellungnahmen analysiert werden. Und so behandelt Page gleichberechtigt neben patronalen Tätigkeiten im Bereich des Ämterwesens denn auch etwa Stadt- und Provinzpatronate sowie die finanzielle Unterstützung von amici sowie die Förderung von Literaten. Hier gewinnt das Bild von sozialer Netzwerkbildung als wesentlichen Mittels zum Erwerb von dignitas eindrucksvoll an Kontur.
Hierauf folgt Pages Analyse des Feldes der literarischen Kommunikation (247-293), angefangen von den vielfältigen Möglichkeiten der Produktion und Publikation von Schriften über ihre Relevanz als Medien des innerelitären Austausches bis zu Plinius' Darstellung seiner studia als Quelle von Prestige und anhaltendem Nachruhm. Als letztes wesentliches Feld des senatorischen Sozialprofils behandelt Page ausführlich die wirtschaftliche Existenz der Reichsaristokratie (294-341), die in Studien, welche sich dem eher 'politischen' oder 'literarischen' Plinius widmen, häufig zu kurz kommt. Im Focus stehen hier die zahlreichen Aussagen des Senators zur Organisation seines Grundbesitzes in verschiedenen Teilen Italiens wie seine Demonstration, ökonomische Herausforderungen kreativ und kompetent zu lösen. Den Abschluss bildet die gesonderte Behandlung des Verhältnisses des Plinius zu seiner Heimat Comum und sein dortiges euergetisches Wirken. Ein umfassendes Fazit bildet das Ende der Studie, es schließen sich Register der Orte, Personen, Sachen und Quellenstellen an.
Wollte man an Pages gründlicher und stets transparent argumentierender Darstellung etwas kritisieren, so wohl, dass - wie in vielen anderen Studien zu Plinius - das 10. Buch der Briefe vergleichsweise kurz kommt. Dabei sorgt gerade die Frage nach Charakter, Sinn und Redaktion dieses Buches in den letzten Jahren für angeregte Diskussion. Fragen muss man sich auch, wie repräsentativ Plinius denn nun tatsächlich für die trajanischen Senatoren war. Was hatte er, der homo novus und einmalige Suffektconsul, etwa mit einem der dreifachen Consulare und engen kaiserlichen Vertrauten gemeinsam, einem Iulius Frontinus, Iulius Ursus oder Licinius Sura, die in jenen Jahren sicherlich erheblich größere Prominenz besaßen, die uns heute freilich viel weniger bekannt scheinen, weil sie es nicht nötig hatten, ihre Selbstdarstellung in plinianischer Manier zu betreiben? Page weiß dieses Problem freilich anzugehen mit seiner wertvollen Differenzierung von 'dem Senat' und 'den Senatoren', die in der gesamten Studie von großem Wert ist. Größere Zurückhaltung scheint wohl auch geboten bei der dem Werk zugrundeliegenden Annahme, der Principat Domitians sei eine gleichsam traumatische Erfahrung für die Senatoren gewesen. Hier hätte Page nach Ansicht des Rezensenten das von ihm eingesetzte Instrumentarium zur Dekonstruktion selbststilisierender Äußerungen dazu nutzen können, auch die polarisierten Bilder eines Pessimus und Optimus Princeps kritischer zu hinterfragen und sie als Produkte von in ihrer Zeit sinnhaften Strategien der trajanischen Herrschaftsdarstellung zu sehen.
Insgesamt unternimmt Page mit seinem Werk einen willkommenen Brückenschlag zwischen jenen jüngeren philologischen Studien, welche die plinianischen Briefe als ein beziehungsreiches literarisches Gesamtwerk in den Blick nehmen, und Arbeiten, welche genuin historischen Fragen nachgehen, in der Vergangenheit die Briefe des Plinius aber noch nie in ihrer Gesamtheit heranzogen. Selbstverständlich kann in einer Arbeit wie dieser nur eine Auswahl von Briefen jene intensive Diskussion erfahren, die Page den für seine Argumente stärksten Zeugnissen exemplarisch zukommen lässt. Doch immer wieder wird die souveräne Textkenntnis des Autors deutlich, der ganz offensichtlich sämtliche Plinius-Zeugnisse, vor allem die vielfältigen Briefe, einer intensiven Analyse unterzog. Und so sind gerade auch die Anmerkungen des Buches wahre Schatzkammern für bemerkenswerte Feststellungen und Querverweise.
Eine echte Biographie des jüngeren Plinius werden wir wohl nie schreiben können, dies allein schon wegen des Mangels an zeitgenössischen Zeugnissen, die ein Korrektiv zu dessen Aussagen sein könnten. Dies freilich wollte Page auch gar nicht, und dennoch gelingt es seinem Buch, so nahe wie wohl noch nie auch an den Menschen Plinius heranzukommen, aus dessen spezifischen Selbstzeugnissen seine Lebensschritte und eben auch Wertewelt zu rekonstruieren und im Kontext seiner Zeit zu verorten. Und genau damit ist es ihm gelungen eine innovative, in viele Richtungen anregende Analyse des Principats zu verfassen, die zumindest dem Rezensenten große Lust auf eine (erneute) eigene Beschäftigung mit dieser Zeit gemacht hat.
Gunnar Seelentag