Gerlinde Klatte / Helga Prüssmann-Zemper / Katharina Schmidt-Loske (Hgg.): Exotismus und Globalisierung. Brasilien auf Wandteppichen: die Teinture des Indes, Berlin: Deutscher Kunstverlag 2016, 376 S., zahlr. Farbabb., ISBN 978-3-422-07354-8, EUR 48,00
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Zu den außergewöhnlichsten Tapisserien des 17. und 18. Jahrhunderts zählt die "Tenture des Indes", acht Gobelins mit exotischen Szenen und Motiven aus Niederländisch-Brasilien, die zwischen 1687 und 1730 in achtfacher Ausführung an der Manufacture Royale des Gobelins in Paris gewirkt wurde. Seit ihrer Entstehung haben Historiker, Ethnologen, Zoologen, Anthropologen und Kunsthistoriker, zuletzt auch Vertreter der postcolonial studies, die Tapisserien sowie die ihnen zugrunde liegenden Naturstudien als authentische und daher verlässliche Abbildungen der frühneuzeitlichen Natur und Kultur Brasiliens betrachtet. Die Kartons, die der niederländische Maler Albert Eckhout nach seinen vor Ort entstandenen Zeichnungen geschaffen hatte, warfen darüber hinaus Fragen nach der speziellen Gattung solcher Bilder auf. Seine Einbindung tradierter europäischer Bildmotive, wie das Motiv des Tierkampfes, in die Schilderung brasilianischer Natur gibt Einblick in die Vorstellung des Exotischen im 17. Jahrhundert. Bei alledem fehlte bislang eine übersichtliche kunsthistorische Untersuchung, die die Entstehung und Provenienz der Tapisserie-Folge sowie ihre globale Wirkungsgeschichte in den Blick nimmt. Diese nicht ganz unkomplizierte Aufgabe übernimmt die vorliegende, 16 Beiträge umfassende Publikation.
Das Augenmerk der Forschung lag zunächst immer auf der eindrucksvollen Figur des Grafen Johann Moritz von Nassau-Siegen (1604-79), dem ersten Auftraggeber der Tapisserien. Als er 1637 aufbrach, um als Generalgouverneur im Dienst der Westindischen Kompanie die Verwaltung und Stabilisierung der neuen niederländisch-brasilianischen Kolonie zu übernehmen, führte er eine kleine Gruppe von Künstlern und Forschern mit sich: Sie sollten für ihn die Neue Welt in Schrift und Bild dokumentieren. Unter ihnen befanden sich die niederländischen Maler Albert Eckhout (1610-1666) und Frans Jansz. Post (1612-1680). Die Aufgabe des Gouverneurs bestand, neben der militärischen Sicherung und Erweiterung der kolonialen Grenzen, vor allem im wirtschaftlichen Ausbau des einträglichen Zuckerhandels. Beide Unternehmen führte er zu außergewöhnlichem Erfolg, nicht zuletzt durch die Einführung des Sklavenhandels mit der westafrikanischen Küste. Daneben verfolgte Johann Moritz seine kulturhistorischen und ethnografischen Interessen, offenbar nicht ohne gleichzeitig an die zukünftige Verbreitung seiner Regierungsleistung zu denken. Die mit ihm gereisten Künstler und Forscher waren damit betraut, Leben und Gestalt der neuen Kolonie im Bild festzuhalten. Die vor Ort entstandenen Öl- und Kreideskizzen sowie Aquarelle und Objekte zur Natur- und Kulturgeschichte Brasiliens sind heute zum größten Teil in ehemals fürstlichen Sammlungen Europas erhalten. Dort vermittelten sie seit dem 17. Jahrhundert ein Bild von Brasilien, das dem europäischen Verlangen nach Exotismus, verbunden mit authentischer Schilderung, entgegen kam und nicht zuletzt auf diese Weise die Vorstellung von der Neuen Welt prägen sollte.
Nach seiner Rückkehr schuf Eckhout im Auftrag von Johann Moritz aus den in Brasilien entstandenen Studien acht großformatige Ölgemälde, die als Kartons für wandhohe Tapisserien dienten. Die ersten beiden Serien wurden 1652 in Delft für Johann Moritz selbst und für seinen neuen Dienstherren, den brandenburgischen Großen Kurfürsten gewirkt und sind nicht erhalten. Eckhouts Kartons ließ Johann Moritz 1679 als diplomatisches Geschenk an Louis XIV. mit dem nachdrücklichen Hinweis überreichen, auf der Grundlage Tapisserien herzustellen. Ab 1687 entstanden in der Manufacture Royale des Gobelins die ersten französischen Serien mit jeweils acht großformatigen Tapisserien. Bis 1730 wurden insgesamt acht Ausführungen unterschiedlicher Größe gewirkt. Die Tapisserien schildern indigene Männer und Frauen in natürlicher Größe, exotische Landschaften, Gebrauchsgegenstände und Waffen, unbekannte Pflanzen, Früchte, Vögel, Fische und wilde Tiere, die sich in Tierkämpfen zur Schau stellen. Sogar eine Zuckermühle ist als authentisches Nebenmotiv in eine der Tapisserien eingewoben.
Die inzwischen als "Anciennes Indes" bezeichnete Folge wurde eine der erfolgreichsten der Manufaktur. Erst 1735 mussten aufgrund der Abnutzung neue Kartons hergestellt werden. Die von Alexandre-François Desportes (1661-1743) gestalteten Vorlagen, die dem gewachsenen Interesse an Exotik mehr entsprachen, respektierten im großen Ganzen aber die Erfindungen Eckhouts. Die neuen Tapisserien, nun als "Nouvelles Indes" bezeichnet, wurden als kostbare diplomatische Geschenke der Krone oder als Sonderanfertigungen fürstlicher Auftraggeber hergestellt und weithin verschickt.
Die Forschung zu der niederländisch-brasilianisch-französischen "Tenture des Indes" und ihren unterschiedlichen Ausführungen ist inzwischen weit verzweigt. Es war daher Anliegen der Herausgeberinnen, eine "Gesamtschau" in Form eines Sammelbandes vorzulegen, der die unterschiedlichsten Ansätze zusammenführt. Entsprechend breit gefächert und methodisch verschieden sind die einzelnen Beiträge, die viele neue Einsichten vermitteln. Über linguistische Überlegungen zu "Indes, calcuttisch und Maures" (Prüssmann-Zemper), "Kunstpatronage und Kulturtransfer von Johann Moritz" (Kürbis), "Zuckerhandel" (Roth) oder dem "Verhältnis von Moritz und Louis XIV." (Vittet) bis zur "Fauna und Flora" Brasiliens (Schmidt-Loske) und "Ethnographica" (Lodderstaedt-Dürr) werden globale Beziehungen sowie "Aspekte des Exotischen" (Schmitz-von Ledebur) als wesentliche Motive zum Verständnis der Tapisserien untersucht. Den größten Umfang des repräsentativ ausgestatteten Bandes nimmt die sorgfältige, allerdings gelegentlich etwas weit ausholende Untersuchung und Dokumentation von Gerlinde Klatte zur Entstehungs- und Provenienzgeschichte sowie zur Rezeption der "Anciennes" und "Nouvelles Indes" ein. Sie unterzieht sich der Aufgabe, den Gesamtbestand der noch vorhandenen, stark dezimierten und in alle Welt verstreuten Tapisserie-Folgen zu verfolgen, Restbestände aufzuspüren und endlich eine für den Augenblick vollständige Übersicht aller bekannten Einzelstücke in Museen, Kunsthandel und Privatbesitz als Katalog vorzulegen. Hierbei gelingen ihr erstaunliche Funde, wie etwa die Wiederentdeckung verschollener Tapisserien in Córdoba oder auch eines Exemplars der "Anciennes Indes", das seinen Weg nach China und wieder zurück nach Europa nahm und sich heute im Ashmolean Museum in Oxford befindet.
Das Buch bietet insgesamt eine hochwillkommene Klärung, Zusammenfassung und Erweiterung der Forschung zu den weit verstreuten Tapisserien. An manchen Stellen gibt es die gleichen Informationen mehrfach zu lesen. Editorische Straffung und gegenseitige Absprache der Autorinnen und Autoren wären der Lektüre zugutegekommen. Eine gute Idee und eine Geste an die internationale Leserschaft ist es dagegen, am Ende jedes Kapitels den Inhalt noch einmal in englischer Sprache zusammenzufassen.
Barbara Gaehtgens