Andrea Bahr: Parteiherrschaft vor Ort. Die SED-Kreisleitung Brandenburg 1961-1989 (= Kommunismus und Gesellschaft; Bd. 3), Berlin: Ch. Links Verlag 2016, 368 S., ISBN 978-3-86153-893-6, EUR 40,00
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Die SED und ihre Herrschaftspraxis sind nach wie vor Gegenstand intensiver historischer Forschung. Hier ordnet sich auch die Dissertation von Andrea Bahr ein, die der Frage nachgeht, "wie die örtlichen Parteiapparate täglich Herrschaft organisierten und gestalteten" (11). Zunächst geht es um die SED-Kreisleitungen als Schnittstelle zwischen der Parteibasis und den Bezirksleitungen; gefragt wird nach ihrem Aufbau und der innerparteilichen Praxis. Im Mittelpunkt stehen dabei das Sekretariat der Kreisleitung als eigentliches Machtzentrum und dessen politischer Apparat. Anschließend untersucht die Autorin sowohl die Anleitung der Parteibasis in Form der Grundorganisationen als auch die Berichterstattung an die übergeordneten Parteileitungen des Bezirkes und des Zentralkomitees. Zur Anleitung gehörten der bis 1989 monatlich durchgeführte "Tag des Parteisekretärs" ebenso wie die Parteiaktivtagungen und die Tätigkeit von Operativinstrukteuren der Kreisleitungen in den Grundorganisationen. Die Berichtspraxis, die auch mit Hilfe von Aussagen früherer Funktionäre analysiert wird, diente einerseits der Herrschaftsinszenierung und hatte andererseits eine "soziale Steuerungsfunktion" (107).
Das nachfolgende Hauptkapitel stellt die Funktionäre der Kreisleitungen und insbesondere die 1. Sekretäre in den Mittelpunkt. Hier geht es der Autorin darum, ein Sozialprofil herauszuarbeiten. Insgesamt vier 1. Kreissekretäre amtierten zwischen 1961 und 1989 in Brandenburg. Im Apparat der Kreisleitung dominierte die Ende der 1920er und zu Beginn der 1930er Jahre geborene "Aufbaugeneration". Vertreter der sogenannten "Mauergeneration", die ab den 1960er Jahren politisch sozialisiert wurden, gelangten im Wesentlichen erst in den 1980er Jahre in verantwortliche Parteifunktionen. Frauen waren im politischen Apparat der Kreisleitung kaum anzutreffen.
Anschließend untersucht die Autorin die "Sinnwelt" der Funktionäre. Zur Organisationskultur der SED gehörten, wie zutreffend herausgearbeitet wird, militarisierende und disziplinierende Elemente ebenso wie ihr Anspruch, für alle Bereiche des politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens zuständig zu sein. Das Schulungswesen, seine karrierebegründende Funktion und seine Wahrnehmung durch die Parteischüler werden ebenso wie die Stellung der Funktionäre im lokalen Umfeld des Kreises und Wohnbezirks auch anhand der Aussagen von Zeitzeugen analysiert.
Das letzte Hauptkapitel, das Herzstück der Dissertation, widmet sich der Praxis der SED-Herrschaft in Brandenburg. Zunächst stellt Bahr die sozialökonomische Struktur Brandenburgs vor. Der nächste Punkt zum Mauerbau zeigt die Schwierigkeiten der SED auf, den Bürgern die Maßnahmen des 13. August 1961 plausibel verständlich zu machen. Kern des Kapitels sind Untersuchungen zum Herrschaftsalltag der Kreisleitung. Inhaltlich geht es hier unter anderem um den an den offiziellen Bilanzen vorbei bewerkstelligten Bau einer Schwimmhalle, Pläne der territorialen Rationalisierung und der zwischenbetrieblichen Kooperation sowie um die Bewältigung von innerbetrieblichen Konflikten. Deutlich kommt darin zum Ausdruck, dass die SED vor allem darum bemüht war, die wirtschaftlichen Abläufe in den Betrieben möglichst störungsfrei sicherzustellen.
Die Autorin untersucht die Herrschaftsinszenierung der SED anhand der Wahlen und der Besuche Erich Honeckers in Brandenburg. Umfangreiche Bemühungen, zu denen auch materielle Zugeständnisse an die Bevölkerung im Vorfeld der Wahlen zählten, sollten eine hohe Wahlbeteiligung gewährleisten. Ähnlich immens war auch der Aufwand, der wegen mehrfacher Besuche des Generalsekretärs anlässlich der Befreiung des Zuchthauses Brandenburg-Görden, in dem Honecker lange Jahre inhaftiert war, betrieben wurde. Hierzu zählten Renovierungen entlang der vorgesehenen Fahrtstrecke ebenso wie repressive Maßnahmen, etwa Vorbeugungsgespräche, Hausarrest und Verhaftungen von einzelnen Bürgern.
Erfolglos war der Versuch der Kreisleitung, die Ausreisebewegung, die sich ab der zweiten Hälfte der 1970er Jahre auch in Brandenburg zunehmend verstärkte, einzudämmen. Permanente Aussprachen mit den Antragstellern zeigten keinen Erfolg. Die Zusammenarbeit zwischen der Kreisleitung und der Kreisdienststelle des Ministeriums für Staatssicherheit ist ebenfalls Gegenstand der Arbeit. Die Mitarbeiter des MfS lieferten vielfältige Informationen. In welchem Umfang jedoch der 1. Kreissekretär Einfluss auf deren operative Arbeit nehmen konnte, ist aufgrund der Quellenlage nicht zu entscheiden.
Zum Abschluss dieses Kapitels geht es um die Frage, warum die SED im Herbst 1989 kampflos die Bühne räumte. Die Autorin schildert eindrücklich die zunehmende Machterosion der Staatspartei, die selbst in den eigenen Reihen Resignation und Auflösungserscheinungen feststellen musste. Sie sieht zu Recht wesentliche Gründe dafür in der Organisationskultur der SED. Der "demokratische Zentralismus" brach zusammen, die Anleitung von oben funktionierte nicht mehr.
Andrea Bahr hat eine Studie vorgelegt, die erstmals die politische Praxis einer SED-Kreisleitung in den Blick nimmt und durch eine breite Literatur- und Quellenbasis besticht. So konnten unter anderem auch elf Zeitzeugen interviewt werden, darunter sechs hauptamtliche Mitarbeiter und Funktionäre aus Kreis- und Bezirksleitungen der SED. Die Autorin macht deutlich, dass die politische Arbeit der Kreisleitung von permanenten Aushandlungsprozessen, Improvisationen und Konfliktlösungen geprägt war. Die Herrschaft der SED im Kreis Brandenburg wird nachvollziehbar als paternalistisch beschrieben.
Die Autorin neigt jedoch mitunter zu vorschnellen Urteilen, sodass nicht alle Wertungen gleichermaßen überzeugen. So sollen die Informationsberichte, die von der Kreis- an die Bezirksleitung gingen, in den 1980er Jahren Informationen über wichtige Einzelprobleme nicht mehr enthalten haben. Um dies festzustellen, hätten jedoch die Monatsberichte der 1. Kreissekretäre systematisch ausgewertet werden müssen. Mitteilungen der interviewten Zeitzeugen über tägliche Begegnungen und Kontakte mit den Einwohnern des Kreises werden ungeprüft als "Volksnähemythos" (168) und Fiktion abgetan. Nicht quellenmäßig belegt, sondern lediglich behauptet wird, dass die Besuche der Kreisfunktionäre in den Betrieben vor Ort "überwiegend rituellen Charakter" (218) besessen hätten und Kontakte zur Belegschaft sorgfältig ausgewählt wurden.
Insgesamt liegt jedoch eine Arbeit vor, deren Ergebnisse nicht nur die Regionalgeschichte des Kreises Brandenburg und des Bezirkes Potsdam, sondern generell die Forschungen zur Geschichte der DDR bereichern.
Mario Niemann