Rezension über:

Isabel Wünsche: The Organic School of the Russian Avant-Garde. Nature's Creative Principles (= Science and the Arts since 1750), Aldershot: Ashgate 2015, 254 S., ISBN 978-1-4724-3269-8, GBP 60,00
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Rezension von:
Mira Kozhanova
Frankfurt/M.
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Mira Kozhanova: Rezension von: Isabel Wünsche: The Organic School of the Russian Avant-Garde. Nature's Creative Principles, Aldershot: Ashgate 2015, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 12 [15.12.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/12/28378.html


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Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.

Isabel Wünsche: The Organic School of the Russian Avant-Garde

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Die künstlerischen Erfindungen der Russischen Avantgarde (1908-1932) wurden bislang in vielfacher Weise auf ihre utopischen Konzepte, revolutionären Aspekte und politischen Dimensionen hin beleuchtet. Die Betonung des urbanen und ideologisch-rationalen Charakters der Bewegung führte dabei in der bisherigen Literatur zu einer gewissen Marginalisierung der damals nicht minder ausgeprägten Faszination für die Natur und ihre organischen Prinzipien und dem damit verbundenen Streben nach einem ganzheitlichen Verständnis der Welt. Isabel Wünsches Publikation The Organic School of the Russian Avant-Garde. Nature's Creative Principles leistet einen wichtigen Beitrag dazu, die organischen Konzepte in ihrer Vielfalt als mehr denn vereinzelte Randerscheinungen der Russischen Avantgarde zu würdigen.

Die Organische Schule, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts in Sankt-Petersburg um Nikolaj Kulbin und Michail Matjuschin bildete, erfreut sich erst seit etwa 25 Jahren eines breiteren Interesses, was im Wesentlichen der Kunsthistorikerin Alla Povelikhina zu verdanken ist. [1] Seit Mitte der 1990er-Jahre beschäftigt sich auch Wünsche mit organischen Konzepten und dem Œuvre Matjuschins [2] und publizierte 2012 ihre detaillierte Studie, die ein Grundlagenwerk zu diesem Thema darstellt. [3] Die vorliegende englischsprachige Publikation baut unmittelbar auf der deutschen auf, setzt sich jedoch zum Ziel, das allgemeine Prinzip der organisch-ganzheitlichen Weltauffassung und die Vielzahl der theoretischen wie künstlerischen Konzepte abseits Matjuschins Organischer Kultur herauszuarbeiten.

Wünsche weitet die Bezeichnung "Organische Schule" auf die naturzentrierten Konzepte der damals in Sankt-Petersburg tätigen Künstler aus (3). Ihre Kunstformen basierten auf neuen, den Leib-Seele-Dualismus überwindenden Schöpfungsprinzipien sowie auf einer ganzheitlichen Weltanschauung. Ausgehend von den grundlegenden Gesetzen der Natur konzentrierten sich die theoretischen und experimentellen Untersuchungen auf die Grundelemente Farbe und Form, ihre Beziehung zueinander und zu ihrem räumlichen Umfeld sowie ihre Auswirkungen auf die menschliche Wahrnehmung.

Gleichzeitig sollte die Kunst von der bloßen äußerlichen Naturnachahmung und bestehenden Konventionen befreit und stattdessen der Wesenskern, strukturelle Prinzipien und vitale Prozesse des organischen Lebens (wie Bewegung, Wachstum und Formentwicklung) erforscht werden. Diese organische Programmatik führte zu dem unabhängigen "dritten Weg der Gegenstandslosigkeit" (Jewgenij Kowtun) der Russischen Avantgarde, den Wünsche systematisch herausarbeitet und differenziert analysiert.

Die fünf Kapitel des Buches stellen eine Reihe von Künstlern vor, die diese organisch-ganzheitlichen Weltanschauungen in unterschiedlichem Maße teilten. Einführend bietet das erste Kapitel einen dichten Überblick über den ideengeschichtlichen Hintergrund, der durch zahlreiche, miteinander eng verwobene philosophische, wissenschaftliche und quasiwissenschaftliche Theorien zum Verhältnis von Mensch und Welt geprägt war. Eine fundamentale Rolle spielten Darwins Evolutionstheorie beziehungsweise ihre russische Interpretation, die gerade aufkommende Psychophysiologie der menschlichen Wahrnehmung (insbesondere Arbeiten von Gustav Theodor Fechner, Wilhelm Wundt und Ernst Mach) sowie Petr Ouspenskys theosophisches Konzept des "kosmischen Bewusstseins". Ausgehend von Lamarcks Theorie der teleologischen Höherentwicklung bildete sich die Vorstellung heraus, dass der Künstler die geistige Evolution des modernen Menschen aktiv beeinflussen könne. Dafür sollte er sein sinnliches und geistiges Erfahrungsfeld erweitern, um die Welt auf eine neue Weise zu begreifen.

Im zweiten Kapitel werden die sogenannten "Pioneers of the Organic School" - Jan Zionglinskij, Nikolaj Kulbin und Jelena Guro - vorgestellt und jeweils mit dem Konzept des "integrativen Sehens", des "Psycho-Impressionismus" und des Anti-Urbanismus verknüpft. Diese drei Größen der Sankt-Petersburger Kunstszene zählten zu den wesentlichen Inspirationen Matjuschins und führen damit nahtlos zum dritten Kapitel, welches dessen Werdegang und die Herausbildung seines monistischen Weltbilds nachzeichnet. Insbesondere werden seine Studien über die organische und inorganische Natur, die Methode der veränderten Welterfahrung durch das "erweiterte Sehen" und das Konzept des Sorwed (etwa "wissendes Sehen") eingeführt. Ferner geht die Autorin auf die Farb- und Formwahrnehmungsexperimente ein, die Matjuschin in den 1920er- bis 1930er-Jahren mit seinen Schülern durchführte. [4]

Im vierten Kapitel geht es um zwei weitere wichtige Konzepte der Russischen Avantgarde. Das eine ist die faktura (wörtlich "Textur"), eine dem Material inhärente Eigenschaft, die sich erst in holistischer Herangehensweise erschließen lässt (141f.). Das zweite Konzept ist, ausgehend von Theorien Henri Bergsons und Nikolaj Losskijs, die "kreative Intuition", mit welcher der Künstler seine inneren Empfindungen intuitiv im Kunstwerk materialisieren und somit auf das Bewusstsein des Betrachters einwirken kann (156-160). In diesem Zusammenhang untersucht Wünsche die organischen Aspekte im Schaffen von Voldemars Matvejs (besser bekannt als Vladimir Markov), Pawel Filonow, Olga Rosanowa und Kasimir Malewitsch.

Das abschließende fünfte Kapitel führt knapp eine heterogene Gruppe Leningrader Nonkonformisten ein, die sich in den 1960er- bis 1990er-Jahren mit naturzentrierten Weltsichten beschäftigten. Neben Wladimir Sterligow und seiner Frau Tatjana Glebowa werden acht weitere Künstler seiner Schule als Erben der synthetischen Gestaltungsprinzipien der Organischen Schule eingeführt. Die implizierte Kontinuität zwischen der Sankt-Petersburger Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts und der nonkonformistischen Kunstszene im Leningrad der Nachkriegszeit wirft eine neue, interessante Forschungsperspektive auf. Eine tiefergehende historische, intellektuelle und kulturelle Kontextualisierung der "Sterligow-Schule", wie Wünsche sie für die frühe Avantgardenbewegung vorbildhaft liefert, stellt jedoch weiterhin ein Desiderat der Forschung dar.

Das reich bebilderte und mit einem hochwertigen Tafelteil ausgestattete Buch überzeugt durch seine klare Struktur trotz der Komplexität des umfangreichen Gegenstandes. Dabei bemüht sich die Autorin um eine vom Gründungsvater der Organischen Schule emanzipierte Vorstellung der Künstler im Kontext des intellektuellen Diskurses der damaligen Zeit, wenn auch die Struktur des Buches dennoch eine eindeutige Fokussierung auf das Werk Matjuschins vorgibt.

Insgesamt leistet das Buch einen wertvollen Beitrag nicht nur zur englischsprachigen Forschungsliteratur und bietet einen wissenschaftlich fundierten Überblick über das facettenreiche Spektrum organischer Konzepte. Bemerkenswert ist die komparative Darstellung der Moskauer und Petersburger Avantgarden, deren Beziehung zueinander noch einer gründlichen systematischen Erforschung harrt. Durch eine ausgezeichnete Einführung in den wissenschaftlichen Kontext sowie die umfassende und thematisch eingeteilte Bibliografie eignet sich die Publikation gut zum Einstieg in die Auseinandersetzung mit der Organischen Schule. Die Synthese einer Vielzahl von Quellen und internationaler Sekundärliteratur mündet in einer beeindruckenden Informationsfülle, die dem englischsprachigen Publikum zum ersten Mal in dieser Ausführlichkeit präsentiert wird und die Lektüre insofern eindeutig empfehlenswert macht.


Anmerkungen:

[1] Siehe insbesondere: Heinrich Klotz (Hg.): Matjuschin und die Leningrader Avantgarde (Ausstellungskatalog Karlsruhe, Badischer Kunstverein, 1991), Stuttgart / München 1991; Alla Povelikhina (Hg.): Organica. The Non-Objective World of Nature in the Russian Avant-Garde of the 20th Century (Ausstellungskatalog Köln, Galerie Gmurzynska, 1999), Köln 1999; Dies.: Organika. Bespredmetnyj mir prirody w russkom awangarde XX weka, Moskau 2000; Dies. (Hg.): Twortscheskij put chudoschnika. Awtobiografija, Koloma 2011.

[2] Wünsche promovierte 1997 zum Thema Das Konzept der Organischen Kultur in der Kunst der Russischen Avantgarde an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg.

[3] Isabel Wünsche: Kunst & Leben. Michail Matjuschin und die Russische Avantgarde in St. Petersburg, Köln / Weimar / Wien 2012.

[4] An dieser Stelle hätte Margareta Tillbergs 2003 veröffentlichte Dissertation Coloured Universe and the Russian Avant-Garde. Matiushin on Colour Vision in Stalin's Russia 1932 größere Würdigung finden können, stellt sie doch die interessante These auf, dass Matjuschin seine pseudowissenschaftlichen Experimente auch als Ausweichmanöver gegenüber der wachsenden Abneigung der neuen Politik gegen die Avantgarde nutzte. Weiterhin hätte in diesem Kapitel ein Verweis auf Matjuschins "kinetisches Gesamtkunstwerk" (Povelikhina) die Ausführungen zum Farbstudium der Organischen Kultur und der Suche nach einem synthetischen Werk möglicherweise eher abrunden können als der detaillierte Verweis auf seine musikalische Ausbildung.

Mira Kozhanova