Maximilian Graf / Agnes Meisinger (Hgg.): Österreich im Kalten Krieg. Neue Forschungen im internationalen Kontext (= Zeitgeschichte im Kontext; Bd. 11), Göttingen: V&R unipress 2016, 298 S., ISBN 978-3-8471-0589-3, EUR 45,00
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Neues Terrain in der Forschung zum Thema Österreich im Kalten Krieg erschließt der hier zu besprechende Band. Basierend auf einem 2012 durchgeführten Workshop und umfangreicher Primärquellenrecherche in österreichischen und internationalen Archiven vereint das von Maximilian Graf und Agnes Meisinger herausgegebene Sammelwerk Beiträge zu bislang kaum reflektierten Aspekten: Diplomatiegeschichte, NGOs, Wissenschaft, Literatur, Kultur- und Sportpolitik. Gleich eingangs liefert Maximilian Graf einen hilfreichen Überblick über den aktuellen Forschungsstand. Er konstatiert eine voranschreitende Einbettung des Forschungsgegenstands Österreich in die internationale Geschichte des Kalten Krieges, wenngleich noch "viel zu tun" bleibe. Die "blinden Flecken" ortet Graf beispielsweise in der Analyse der öffentlichen Wahrnehmung des Kalten Kriegs in Österreich sowie der internationalen Perzeption der Rolle und Haltung des Landes. (45-48)
Praktisch vergessen ist die von Lukas Schemper dargestellte Rolle des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) bei der Repatriierung ("Rückholung") von Flüchtlingen: Bei Kriegsende 1945 befanden sich etwa 1,4 Millionen sogenannten Displaced Persons (DP) in Österreich. Ebenso wie in ganz Europa wurde deren überwiegende Mehrheit bis Anfang der 1950er Jahre in die Heimatländer repatriiert. Danach leisteten noch verbliebene DPs aus Osteuropa vermehrt Widerstand gegen erzwungene Repatriierung, was sie zu einer "Problematik des Ost-West Konflikts" machte. (51) Das 1950 gegründete UNHCR entsandte ab 1955 neutrale Beobachter zu Repatriierungen in Österreich. Deren Anwesenheit verhinderte, dass Druck von Seiten sowjetischer Repatriierungsoffiziere ausgeübt werden konnte. (56) Immer wieder kritisierte das UNHCR Österreichs Vorgehen gegenüber den Flüchtlingen und intervenierte im Innenministerium (60f.), so etwa als Beobachtern verweigert wurde, sowjetische Diplomaten davon abzuhalten, Flüchtlinge in Lagern und Privathäusern zu besuchen. (71)
Christian Forstner zeigt auf, wie die österreichische Nuklearforschung vom Kalten Krieg erfasst wurde. Trotz einer langen Tradition in der Radioaktivitäts- und Kernforschung war Österreich nach 1945 nicht in der Lage, ein Kernenergieprogramm zu initiieren. Auch in Sachen Forschungspolitik ordnete man sich der Führungsrolle der USA unter, wenngleich mit dem 1971 beschlossenen Bau des Atomkraftwerks Zwentendorf innereuropäische Netzwerke an Bedeutung gewannen. (96) Das Volksabstimmungs-"Nein" über die Inbetriebnahme (1978) setzte einen Transformationsprozess in Gang, der in ein atomkraftfreies Österreich mündete. (94)
Wie Doris Neumann-Rieser nachweist, war "Atomangst" - die Furcht vor einem nuklearen Dritten Weltkrieg - zwischen 1945 und 1966 ein wichtiger Topos in der österreichischen Literatur. Allerdings wurde es infolge der Verhärtung der Fronten zunehmend schwierig, Stellung für Abrüstung und gegen Atomwaffenerzeugung zu beziehen. (116) Zahlreiche, keineswegs mit dem Kommunismus sympathisierende Intellektuelle wurden wegen ihrer Atomwaffengegnerschaft als "fellow traveller" verunglimpft. (117f.) Dabei sei von einer "doppelten Abwehr" gegen die Atompolitikstrategien der USA als auch der UdSSR zu sprechen. (119)
Das schon klischeehafte Bild Österreichs und insbesondere Wiens als "Begegnungsort" oder "Ost-West-Schnittstelle" unterlegt Magdalena Reitbauer mit konkreten empirischen Befunden: Im Untersuchungszeitraum von 1960 bis 1983 fanden 600 relevante Besuche ausländischer Akteure in Österreich statt (125), wobei die Besuche aus Osteuropa bzw. der Sowjetunion am häufigsten waren. Das Land sei dabei weit mehr als ein "politischer Zaungast" gewesen, sondern habe sich im internationalen Mächteverhältnis verortet und konkrete Vorteile herausgeschlagen. (142) Erst mit der Verschärfung des Ost-West-Konflikts Ende der 1970er Jahre hätte die Besuchsdiplomatie "rein quantitativ" nicht mehr an die Intensität des vorangegangenen Jahrzehnts herankommen können. (131)
Maximilian Graf beleuchtet im anschließenden Kapitel konkret die österreichische "Ostpolitik": Hier bemühte sich Österreich nach 1945 um eine rasche Wiederbelebung der Beziehungen zu den unmittelbaren Nachbarstaaten. Diese Bestrebungen konnten sich ab den 1960er Jahren entfalten und manifestierten sich in zahlreichen hochrangigen Besuchen und intensivierten Wirtschaftskontakten. (147) So kam Österreich eine "Eisbrecherrolle" für die DDR zu, die in Form von Großaufträgen für die verstaatlichte Industrie honoriert wurde. (162) Laut Graf ist diese "wirtschaftliche Dimension der österreichischen Ostpolitik" im Gegensatz zum "überhöhten" Bild als "Begegnungsstätte" bislang noch nicht Gegenstand quellengestützter Forschung gewesen. (146)
Die Bedeutung des Osthandels kommt auch in Agnes Meisingers Betrachtung der österreichischen Reaktion auf den US-amerikanischen Olympiaboykott (1980) zutage. "Wenn ich jetzt einen Boykott beschließe, wird mir zweimal auf die Schulter geklopft. Aber dann habe ich fünf Jahre Scherereien und muss das bei Reisen in Moskau erklären", meinte Bundeskanzler Bruno Kreisky. (195) Neben dem diplomatischen Kalkül wurden funktionierende Außenhandelsbeziehungen zur Sowjetunion für wichtiger erachtet, als dem US-Boykottaufruf Folge zu leisten. (206) Die Letztentscheidung wurde bewusst auf die sportliche Ebene heruntergebrochen: Das Österreichische Olympische Komitee (ÖOC) entschied sich am 19. Mai 1980 in einer Vollversammlung für die Olympiateilnahme. (186)
Einen wenig bekannten kulturellen Akteur stellt Stefan Maurer vor: Wolfgang Kraus, der zwischen 1961 und 1994 Leiter der Österreichischen Gesellschaft für Literatur (ÖGL) war. Diese organisierte nicht nur Lesungen, Diskussionsabende und humanitäre Hilfe für Dissidenten, sondern verfolgte verdeckte Agenden im kulturellen Kalten Krieg. Dabei wurde Kraus' ÖGL von Organisationen wie dem Congress for Cultural Freedom (CFF) unterstützt, der selbst maßgeblich von der CIA finanziert wurde. (213) Unter anderem partizipierte die ÖGL an "psychologischer Kriegsführung", indem sie half, westliche Bücher und Druckschriften in die kommunistischen Staaten zu schmuggeln. (225)
Die Sowjetunion wiederum setzte in Österreich zwischen 1945 und 1955 ebenso auf Kulturpolitik, um negativen "Russenbildern" sowie "antisowjetischer" und "feindlicher" Propaganda entgegenzuwirken. Wie Alexander Golovlev darstellt, kam es zur Übersendung von Büchern, Zeitschriften und Filmen, der Organisation von Gastspielen sowie der Kontaktaufnahme zu österreichischen Behörden und Künstlern. Am 2. Juni 1945 wurde für diese Zwecke eigens eine Österreichisch-Sowjetische Gesellschaft (ÖSG) ins Leben gerufen. (244f.) Allerdings, so Golovlev, konnte im Angebot von "Schwanensee und Ideologie" nur Ersterer auf Erfolge hoffen. (257)
Der abschließende Beitrag von Andrea Brait widmet sich der österreichischen Kulturaußenpolitik im Kalten Krieg, die bislang kaum erforscht wurde. (259) Ab Ende der 1970er Jahre wurden die Auslandskulturkontakte mit allen Warschauer-Pakt-Staaten in Form von bilateralen Abkommen institutionalisiert. (272). Damit verbunden war ein Aufstieg der Kulturaußenpolitik zur "dritten Säule" der Außenpolitik (neben politisch-militärischen und wirtschaftlichen Belangen). (281) Das Interesse an einem intensiven Kulturaustausch mit den mittel- und osteuropäischen Staaten ist bis heute beständig. (294)
Unter dem Strich liefert "Österreich im Kalten Krieg" viel Neues zu einem Thema, das oft auf Gemeinplätze wie "Spionagedrehscheibe" und "neutraler Begegnungsort" reduziert wird. Die Studie ist ebenso ein Beleg dafür, dass es mit der primär österreich-fixierten Betrachtungsweise des Kalten Krieges vorbei ist und der Blick über den "Tellerrand" hinaus gerichtet wird. Wenngleich die mitunter trockene Substanz einiger Beiträge den Lesefluss etwas hemmt, handelt es sich insbesondere für die Forschung um einen gewinnbringenden Beitrag.
Thomas Riegler