Dionysios Chourchoulis: The Southern Flank of NATO, 1951-1959. Military Strategy or Political Stabilization, Lanham, MD: Lexington Books 2015, XXXIII + 251 S., ISBN 978-0-7391-9305-1, USD 95,00
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Die Südflanke der NATO ist derzeit Dauerthema, und zwar nicht nur wegen der Flüchtlingsströme oder der besonderen Probleme Griechenlands und der Türkei, sondern auch durch die Ereignisse jenseits der Bündnisgrenzen. Unterlegt, wenn auch nicht immer sofort sichtbar, sind ungelöste Konflikte zwischen Bündnispartnern, die schon seit Jahrzehnten bestehen.
Stoff genug, der nach historisch-politischer Orientierung verlangt. Nun gibt es bereits zahlreiche Studien zur NATO-Südflanke im Kalten Krieg. Diese indes konzentrieren sich meist auf Teilaspekte bzw. auf die nationale Perspektive eines Partnerlandes. Gesamtbetrachtungen unter Einbeziehung der NATO als Ganzes sowie insbesondere auch der angrenzenden Regionen unter multiperspektivischen Vorzeichen sind Mangelware. Diese Lücke hat Dionysios Chourchoulis jetzt für die Jahre bis 1959 geschlossen.
Der Autor beleuchtet die politisch-militärische Entwicklung der NATO-Südflanke im Gesamtrahmen, dabei immer konsequent sowohl die politischen als auch die militärischen Aspekte analysierend und stets mit einem Teil zum Nahen bzw. Mittleren Osten versehen. Die Leitfrage dabei ist, ob die NATO eher "effective military protection" oder "political stability 'in depth'" geboten habe.
Chourchoulis bietet dabei weniger Neues zum Zypernkonflikt, der im Gesamtrahmen sauber abgearbeitet wird, als vielmehr zu den Motivationen der Beteiligten im NATO-Kontext und vor allem auch zur Verknüpfung der NATO mit den Regionen außerhalb der Bündnisgrenzen. Hier liegen die besonderen Stärken des Werkes.
So werden etwa die Hintergründe der Entscheidung zum Beitritt der Türkei und Griechenlands im Jahre 1951/52 klar analysiert. Allen Beteiligten war klar, dass beide Staaten nicht zuletzt finanziell und wirtschaftlich eine Belastung sein würden. Dass sie dennoch NATO-Mitglieder wurden, hatte gerade auch auf US-Seite mit teils eher abstrakten politisch-militärischen strategischen Erwägungen und allzu optimistischen Erwartungen in Bezug auf die türkischen und griechischen Streitkräfte zu tun. Man dachte geopolitisch, konstruierte eine sich wechselseitig abstützende Südostflanke und stellte die Imponderabilien zurück. Ein nicht zu unterschätzender Faktor waren politische Interessengruppen innerhalb und außerhalb des US-Kongresses (z.B. griechische Lobby).
Über den NATO-Beitritt war man sich an der Flanke selbst einig. Die Türkei hoffte auf ein gesichertes "Hinterland" und auf dieser Basis auf eine herausragende Bedeutung im Kontakt mit den Nahen bzw. Mittleren Osten. Die Griechen strebten ein Vorfeld an, um nicht unmittelbarer Frontstaat zu werden. Die Italiener, die sich zu dieser Zeit noch mit Jugoslawien im Konflikt um Triest befanden, bauten auf eine Stabilisierung ihrer sicherheitspolitischen Lage und befürworteten die NATO-Mitgliedschaft der Türken und Griechen ebenfalls. In der Realität folgte dann eine Geschichte der Defizite, Konflikte und Probleme, die lediglich Mitte der fünfziger Jahre durch eine kurze Phase der Konsolidierung mit entsprechenden Hoffnungen unterbrochen wurde.
Der Autor berücksichtigt in verdienstvoller Weise die NATO als Ganzes und insbesondere ihre Mitglieder außerhalb der Südflanke als entscheidenden Faktor. Die NATO und die Mehrzahl ihrer Mitgliedstaaten, darunter bis in die achtziger Jahre hinein auch die USA, konzentrierten sich eindeutig auf den Mittelabschnitt und die Abwehr bzw. Abschreckung des Warschauer Paktes in Mitteleuropa. Die Nordflankenstaaten hatten darüber hinaus noch besondere Eigeninteressen im Verhältnis zur Südflanke, obwohl man sicher nicht von einer ausgeprägten Konkurrenzsituation reden kann. Die Bundesrepublik zeigte nach ihrem Beitritt ein gewisses Verständnis für die Südflanke, unterstützte diese indes vor allem aus dem Interesse der Gesamtstabilität der Allianz heraus. Ein ausgedehntes Engagement der NATO im Mittleren Osten stieß auf sehr wenig Interesse.
Die einzige Ausnahme bildeten die Briten, die ihre imperialen Interessen in den fünfziger Jahren noch nicht aufgegeben hatten und massiv auf die Einbeziehung insbesondere auch des Irak in das westliche Bündnissystem hinarbeiteten. Daher konzentrierten sie sich auf den Aufbau spezieller Sub-Strukturen bzw. einer zusätzlichen Bündnisstruktur für den Mittleren Osten (Middle East Command, MEC, bzw. Middle East Defence Organisation, MEDO) sowie auf die Unterstützung der Türkei als dem entscheidenden Vorposten dort.
London scheiterte mit seinen Plänen weitgehend. Die avisierten Strukturen verkomplizierten den Aufbau der NATO durch Doppelzuständigkeiten (eigentlich gerade für Briten ein Anathema - "waste of effort"), und die Begünstigung der Türkei behinderte die nötigen Kompromisse mit den Griechen in der Zypernfrage. Als entscheidend aber erwies sich die Tatsache, dass die Briten ihre Ansprüche nicht mit entsprechender militärischer Stärke untermauern konnten, weil sie inzwischen viel zu schwach geworden waren. Die Amerikaner mutmaßten, durchaus nicht zu Unrecht, dass die Briten hier Mitsprache beim Einsatz des US-Potenzials und dadurch einen zumindest indirekten Machtgewinn anstrebten. Ferner war für Washington klar, dass die entstehende NATO schon genug mit der Verteidigung Europas und der transatlantischen Gemeinschaft zu tun hatte; daher lehnten die USA alle Experimente eines direkten NATO-Engagements jenseits der türkischen Grenzen ab. Schließlich kam dann eine eigenständige Schwesterorganisation zur NATO heraus, der Bagdadpakt, in dem allerdings die Türkei Mitglied war. Die Amerikaner näherten sich in der Folge den Staaten im Mittleren Osten gewissermaßen aus der globalen Perspektive - weitgehend ohne die Briten - an. In den achtziger Jahren wurde die Region dann ein zentraler Schwerpunkt - auf Kosten der NATO und mit entsprechenden Konflikten in Brüssel und Mons.
Die Amerikaner blieben trotz dieser Situation die entscheidende Stütze, insbesondere für die Türkei und Griechenland - nicht nur wirtschaftlich und finanziell, sondern auch militärisch, nicht zuletzt in Gestalt der 6. US-Flotte. Chourchoulis konstatiert insofern zu Recht, dass die bilateralen Beziehungen mit Washington für Ankara und Athen mindestens so wichtig waren wie die Mitgliedschaft in der NATO.
Die Schwächen auf wirtschaftlichem, finanziellem und militärischem Gebiet blieben indes; Chourchoulis bietet dazu eine durchgängig nüchterne, überzeugende Bilanz. Daher versuchte man, vor allem eine Stabilisierung mit politischen Mitteln zu erreichen. Im August 1954 kam es zur Gründung des Balkanpakts zwischen Griechenland, der Türkei und Jugoslawien, der einzigen blockübergreifenden Allianz des Kalten Krieges. Gleichzeitig gelang es Athen und Ankara zeitweise, ihre Konflikte auch in Bezug auf Zypern zu entschärfen, obwohl die Briten immer noch zäh an ihrer Kolonialherrschaft dort festhielten und die Türken favorisierten. Für kurze Zeit schienen günstigere Zeiten anzubrechen.
Kaum dass der Balkanpakt besiegelt war, zerschlugen sich die Hoffnungen. Tito näherte sich der Sowjetunion an, Mitte 1955 brach der Zypernkonflikt mit aller Schärfe aus, und 1957/58 folgten ein radikaler Umschwung im Irak und eine Krise in Syrien. Dazu hatte man fortgesetzte Probleme mit der NATO-Kommandostruktur zu gewärtigen, die auch auf die politischen Konflikte zwischen Griechen und Türken zurückgingen. In der Folge kam es zu wechselseitigen Ausschreitungen, politischen Angriffen und Kriegsdrohungen - ein seismisches Vorspiel zu den Ereignissen der siebziger Jahre.
Die NATO, und hier liegt eine der zentralen Erkenntnisse, spielte als Mediator kaum eine Rolle, besaß auch nicht die nötigen Krisenmechanismen. Bis auf wenige Ausnahmen zeigten die meisten ihrer Mitgliedsstaaten auch kein wirkliches Interesse an einer Mediation. So kam es nur kurzzeitig zu schwachen Vermittlungsversuchen aus Brüssel. Den Amerikanern allein blieb diese zentrale Aufgabe vorbehalten. Hier besteht eine wichtige historische Folie für die Bewertung der NATO heute.
Gleichfalls ernüchternd ist die Geschichte der Schwesterbündnisse zu sehen. Der Bagdadpakt wurde 1959 in Central Treaty Organisation (CENTO) umbenannt und fand seine globalstrategische Fortsetzung in der South East Asia Treaty Organisation (SEATO). Die Namensgebung sollte die Hoffnung auf lebenskräftige, global umspannende Partnerschaften ausdrücken. Indes war die CENTO schon bei ihrer Gründung praktisch tot, da der Irak nach dem blutigen Putsch von 1958 faktisch die Seiten wechselte und das benachbarte Syrien sich mit Ägypten zur Vereinigten Arabischen Republik (VAR) zusammentat. Die Situation gerierte sich gerade für die Türken bedrohlich - vergleichbar der Situation im Zweiten Golfkrieg 1991.
Die militärische Lage wirkte insgesamt düster, da die Südflanke, vielleicht bis auf Italien, mit den vorhandenen konventionellen Mitteln zu Lande kaum zu verteidigen war. Blieb der Einsatz von Atomwaffen, der jedoch keine wirklich hoffnungsspendende Option war, da die Anwendung von taktischen Nuklearwaffen wohl rasch zur Eskalation geführt hätte. Begrenzte Kriegführung ("Limited War") konnte nur unter günstigsten Annahmen eine Möglichkeit sein. Ferner ist bis heute letztlich nicht klar, ob und wann Atomwaffen in Griechenland stationiert wurden. Chourchoulis fasst hier die vorhandenen Informationen zusammen und markiert damit den Forschungsstand.
Insgesamt kommt er abschließend zu einem begrenzt positiven Urteil. Die NATO habe immerhin durch ihren institutionellen Rahmen zur politischen Stabilisierung der Region beigetragen ("political stability 'in depth'"). Es kam immerhin nicht zu einem heißen Krieg zwischen der Türkei und Griechenland.
Die NATO war in erster Linie ein transatlantisches Bündnis mit dem Schwerpunkt der Verteidigung West- und Mitteleuropas, und das ist sie bis heute. Dieser Befund wird sehr deutlich - gerade durch den Fokus auf die Südflanke. Letztlich hat sich die Allianz in diesem Punkt, trotz der Out-of-Area-Einsätze u.a. in Afghanistan, nicht wirklich verändert. Ob dies in der entstehenden multipolaren Welt noch ausreicht, hat der Historiker nicht zu entscheiden. Die Bewertung für die Studie von Chourchoulis fällt indes eindeutig aus: mustergültig.
Bernd Lemke