Maria von Loewenich / Jörn Petrick (Bearb.): Dokumente zur Deutschlandpolitik. VI. Reihe. Band 7: 1. Januar 1981 bis 1. Oktober 1982, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2016, LXXXV + 1036 S., 33 Abb., ISBN 978-3-11-046121-3, EUR 99,95
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Auch Editionen können spannend sein. Das zeigt der neue Band der "Dokumente zur Deutschlandpolitik", der die letzten 21 Monate der sozial-liberalen Koalition behandelt. Bereits Dokument 8 ist ein erster Paukenschlag: Ewald Moldt, Ständiger Vertreter der DDR in Bonn, berichtete Erich Honecker vom Besuch Herbert Wehners in seiner Residenz am 6. Februar 1981. Fünf Stunden verbrachte der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion dort. Was er Moldt dabei zu sagen hatte, ging weit über ein Hintergrundgespräch hinaus. Es begann mit Details aus dem "deutschlandpolitischen Gespräch" der SPD beim Bundeskanzler. Wehner stimmte Moldt gegenüber der Forderung nach völkerrechtlicher Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik zu: "Eine Änderung des Grundgesetzes sei allerdings erst in zehn bis zwanzig Jahren vorstellbar." (51) Noch brisanter war Wehners Bericht aus dem Bundessicherheitsrat, der zwei Tage zuvor über Waffenexporte beraten hatte. Detailliert rapportierte er die Positionen der Teilnehmer, von Willy Brandt bis Otto Graf Lambsdorff. Nächstes Thema war die eigene Partei: "H. Wehner sagte, daß die SPD eigentlich keine Partei mehr sei. [...] Die meisten Funktionäre sind korrumpiert. [...] Aus der Umgebung von W. Brandt werde sein Abgang als Vorsitzender der SPD-Fraktion lanciert." (53) In der Tat lief zu dieser Zeit ein Streit zwischen beiden, in dem der Parteivorsitzende seinem Genossen vorwarf, die Debatte über eine mögliche Spaltung der SPD noch anzuheizen. Brandt erwog sogar seinen Rücktritt. Am Ende des Treffens mit Moldt erinnerte sich Wehner seiner Zeit in der KPD: "Außer einem Vorbehalt gegen Praktiken während der Stalin-Zeit waren diese Bemerkungen positiv." (53)
Natürlich muss nicht jede Äußerung, die sich in Moldts Bericht findet, wirklich so gefallen sein. Aber es gibt keinen Grund daran zu zweifeln, dass er bei den Themen, über die gesprochen wurde, authentisch ist. Man fragt sich nur, was den Fraktionsvorsitzenden der SPD dazu bewog, derartige vertrauliche, teils sogar geheime Informationen weiterzugeben. In den Biographien über Wehner gibt es zu diesem Gespräch keine Hinweise.
Zahlreiche Dokumente befassen sich mit der Vorgeschichte des Milliardenkredits, den die DDR 1983 aus der Bundesrepublik erhielt. Im Sachregister findet man diese Dokumente nur unter dem Schlagwort "Züricher Modell". Auffällig ist, dass alle bundesdeutschen Dokumente zu diesem Thema, die abgedruckt werden, aus persönlichen Nachlässen außerhalb staatlicher Archive stammen: aus Hans-Jürgen Wischnewskis Papieren im Archiv der sozialen Demokratie und aus Helmut Schmidts Privatarchiv, aber kein einziges aus dem Bestand Bundeskanzleramt im Bundesarchiv. Leider ist den sonst so sorgfältigen Bearbeitern dabei ein Fehler unterlaufen: Wie dem Rezensenten bestätigt wurde, ist die Angabe im Quellenverzeichnis, "HWAK" stünde für "Herbert Wehner-Archiv", falsch; richtig ist, dass damit Wischnewskis Nachlass gemeint ist.
Einige der hierzu abgedruckten Dokumente wurden auf der Grundlage der DDR-Überlieferung bereits früher veröffentlicht. Doch Wichtiges ist neu. Dabei wird deutlich, wie dubios die ganze Geschichte begann. So erläutern die Bearbeiter zur Rolle des bundesdeutschen Bankiers Holger Bahl, er habe "auf beiden Seiten den Eindruck erweckt, die Idee zum Züricher Modell stamme von der jeweils anderen Seite" (411, Anm. 44). Undurchsichtig ist auch die Rolle von Karl Wienand (und über ihn die von Herbert Wehner). Ein Beispiel (Dok. 102): Wehner erfuhr dieser Quelle zufolge erst am 9. Dezember 1981 durch Rechtsanwalt Wolfgang Vogel von Wienands Bemühungen um Vermittlung des Kredits an die DDR. Wehner rief noch während des Gesprächs Wienand an und "schrie dann in den Hörer, das sei ungeheuerlicher Dilettantismus" (417). Diese Version war bereits bekannt. Neu ist der Hinweis der Bearbeiter, dass DDR-Unterhändler Jürgen Nitz zufolge der Streit nur gespielt war, so Wienand; Wehner sei längst eingeweiht gewesen.
Bundeskanzler Helmut Schmidt stand einem Kredit an die DDR skeptisch gegenüber. Und wenn es dennoch dazu kommen sollte, dann - so die einhellige Auffassung der Bundesregierung - war ein substantielles Entgegenkommen der DDR beim Mindestumtausch erforderlich. Dieser war gerade erst von 13 auf 25 DM pro Tag erhöht worden. Dazu aber sah sich die DDR mit Verweis auf wirtschaftliche Schwierigkeiten nicht in der Lage. Wie ernst diese Probleme waren, war auch in Bonn bekannt. Von 11 Milliarden US-Dollar Verbindlichkeiten gegenüber dem Westen war die Rede, davon über 9 Milliarden außerhalb des Handels mit der Bundesrepublik. Auf DDR-Seite sah man die nahe Zukunft so düster, dass im März 1982 Überlegungen angestellt wurden, ob das Land seine Zahlungsunfähigkeit erklären sollte (Dok. 136). Diese Variante wurde nicht gewählt, aber um fast jeden Preis sollte der Export in den Westen gesteigert werden. Einkalkulierte Folge: "Bei einzelnen Positionen sind ernste Versorgungsprobleme zu erwarten." (645) Und es liefen die Bemühungen um einen großen Westkredit weiter.
Um diesen zu erreichen, aber auch um die schwächelnde Bonner Regierung zu stützen, versuchte die DDR, die Beziehungen zur Bundesrepublik zu verbessern. Sie war jedoch nicht bereit, von Honeckers Geraer Forderungen abzugehen, deren Kern eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik war. Damit blieb nicht viel Spielraum. Man versuchte es mit besonders zuvorkommender Behandlung von Westdelegationen (Dok. 62, 201), aber der Ablauf des Besuchs des Bundeskanzlers in Güstrow im Dezember 1981 konterkarierte derartige Signale. Die DDR konnte nicht über ihren Schatten springen, und wenn sie es denn gewollt hätte, stand dem der Druck der Sowjetunion entgegen, die von Ost-Berlin eine scharfe Abgrenzung von der Bundesrepublik forderte (Dok. 190).
Erst ganz kurz vor Ende der sozial-liberalen Koalition wagte sich die DDR etwas weiter vor. Vom 12. bis 15. September 1982 besuchte Kanzleramtsminister Hans-Jürgen Wischnewski die DDR (Dok. 201). Auch er wurde mit "protokollarischen Aufmerksamkeiten" bedacht, seine Gesprächspartner redeten offen und "unverkrampft" über die Lage (899). Beim Mindestumtausch war keine Änderung möglich, aber "überraschend" (900) erklärte sich Honecker bereit, die seit Jahren stagnierenden Verhandlungen über ein Kulturabkommen voranzubringen, indem man die strittige Frage der Stiftung Preußischer Kulturbesitz ausklammerte. Dieser Punkt fand Aufnahme in die Auflistung der "bemerkenswert" erscheinenden Punkte, die das Dokument beschließt (908). Aber es gab noch ein zweites, aus heutiger Sicht viel spektakuläreres Entgegenkommen der DDR. In der bundesdeutschen Aufzeichnung zum Gespräch mit Honecker kann man lesen: "Er [Honecker] betonte, daß die DDR dabei sei, die Grenze durch Abbau der Selbstschußanlagen zu humanisieren." (902)
In der bisherigen Forschung, soweit sie der Rezensent überblickt, wird der Abbau der Selbstschussanlagen auf 1983 datiert, als Gegenleistung zum Milliardenkredit, den Franz Josef Strauß vermittelte. Der Vermerk vom September 1982 legt nahe, dass sich die DDR bereits vorher entschieden hatte, die Demontage zu beginnen, und sich somit von Strauß etwas abhandeln ließ, was sie bereits zuvor aufgegeben hatte. Strauß erzielte also nur scheinbar einen Erfolg.
Frappierend ist, dass Honeckers Mitteilung im Bericht über Wischnewskis Reise nicht zu den "bemerkenswerten" Punkten gezählt wurde. Verblüffend ist auch, dass der in den DzD abgedruckte Vermerk nicht die erste Veröffentlichung von Honeckers Zugeständnis ist. Im AAPD-Band für 1982, erschienen 2013, ist ebenfalls eine Aufzeichnung über das Gespräch Wischnewski - Honecker abgedruckt. Sie wurde von Staatssekretär Bräutigam verfasst. Dort heißt es: "Honecker fügte hinzu, übrigens sei die DDR dabei, die Grenze zwischen den deutschen Staaten zu 'humanisieren' durch Abbau der Selbstschußanlagen. Er nehme an, daß dies auf unserer Seite auch schon bemerkt worden sei." [1] Der damalige Hauptherausgeber der AAPD, Horst Möller, hat dieses Dokument nicht berücksichtigt, als er in seiner Strauß-Biographie auf den Milliardenkredit einging. Strauß ist auch hier derjenige, der bei Honecker den Abbau der Selbstschussanlagen erreichte. [2]
Als Wischnewski nach Bonn zurückkehrte, war das Ende der Regierung Schmidt-Genscher bereits absehbar. Beide Seiten mussten sich umstellen. Die DDR-Führung befürchtete ein Ende der bisherigen Bonner Linie. Am 14. September 1982 erklärte Norbert Blüm dem Leiter der Westabteilung des SED-ZK, Herbert Häber, "daß im Falle eines Regierungswechsels in Bonn in Fragen der Ostpolitik und vor allem was die Beziehungen zur DDR betrifft, die Kontinuität gewahrt bleibe" (917). Honecker strich diese Passage am Rande gleich doppelt an. Dennoch erging Ende September vom Außenministerium der DDR die Weisung, bisherige Zugeständnisse wie in Sachen des Kulturabkommens wieder zurückzunehmen: "Es handelte sich hier um ein Entgegenkommen der DDR, um die SPD/FDP-Regierung zu unterstützen." (958) Auch sonst sollten von DDR-Seite keine Initiativen ergriffen werden.
Der nächste Band ist bereits in Arbeit. Angesichts all des Neuen, was der vorliegende bereithält, kann man gespannt sein, was im nächsten Jahr noch zum Milliardenkredit und anderen Themen zu erfahren sein wird.
Anmerkungen:
[1] Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1982, Band II, 1. Juli bis 31. Dezember 1982, bearb. von Michael Ploetz / Tim Szatkowski / Judith Michel, München 2013, 1277.
[2] Horst Möller: Franz Josef Strauß. Herrscher und Rebell, München 2015, 605.
Bernd Rother