Pierre Rosenberg: Nicolas Poussin. Les tableaux du Louvre. Catalogue raisonné, Paris: Somogy éditions d'art 2015, 280 S., ISBN 978-2-7572-0918-9, EUR 34,95
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Obgleich weit davon entfernt, unter die populären oder (selbst in internationaler Fachperspektive gesehen) prominentesten Künstler gezählt zu werden, sind dem Œuvre Nicolas Poussins - darin kaum einem Maler der Frühen Neuzeit vergleichbar - in den vergangenen 180 Jahren insgesamt acht Catalogues raisonnés gewidmet worden. [1] Innerhalb der seit 1837 erschienenen Kataloge muss als zentrales Werkverzeichnis Anthony Blunts 1966 vorgelegtes Buch "The Paintings of Nicolas Poussin. A Critical Catalogue" gelten, das hinsichtlich der Angaben zu Provenienz, Zuschreibungsfragen und bibliografischem Apparat besonders akribisch angelegt ist und daher auch für alle nachfolgenden Unternehmungen das Referenzwerk wurde: Die Kataloge von Doris Wild (1980), Christopher Wright (1985) und Jacques Thuillier (1994) schließen daran an, indem sie die von Blunt begonnene Bibliografie zu ergänzen bzw. fortzuschreiben versuchen, sie aber nicht noch einmal von Grund auf wiederholen.
Eben dies unterscheidet den Ansatz, den Pierre Rosenberg in einem neuen Poussin-Gesamtverzeichnis verfolgt, das im Laufe dieses Jahres erscheinen soll. Der frühere Direktor des Louvre und international renommierte Poussin-Spezialist hat sich des ehrgeizigen Unterfangens angenommen, Blunts Standardwerk zum Ausgangspunkt für einen grundlegend neuen Œuvre-Katalog zu nehmen - und damit natürlich auch zu ersetzen. Gewissermaßen als ein Vorgeschmack auf seinen Gesamtkatalog fungiert Rosenbergs hier besprochene Publikation mit der im Untertitel genannten Beschränkung auf "Les tableaux du Louvre". Die systematische Aufarbeitung der Pariser Poussin-Bestände ist insofern gerechtfertigt, als das Museum international eine der umfangreichsten Poussin-Sammlungen (und, wie Rosenberg bei seiner Erörterung von deren Charakterisierung, Entstehung und Geschichte formuliert: "sinon la plus belle" <43>) besitzt, der lediglich Frühwerke aus der Zeit fehlen, bevor Poussin 1624 nach Rom ging.
Wie der Verfasser im Vorwort betont, handelt es sich bei der vorliegenden Publikation nicht um einen simplen Ausschnitt aus dem in Fertigstellung begriffenen Poussin-Gesamtverzeichnis, sondern um ein Hybrid aus zwei Gattungen: der des Œuvre-Katalogs eines Künstlers bzw. einer Künstlerin und der Erfassung des Gesamtbestands einer Sammlung. Dies hatte insofern Konsequenzen für die Konzeption des Buches, als Rosenberg hierfür nicht einfach die Texte des endgültigen Catalogue raisonné übernehmen konnte. Denn wo dort bei Vergleichen zwischen einzelnen Werken stets auf die entsprechenden Einträge verwiesen werden kann, mussten diese im vorliegenden Buch, wenn es sich um nicht im Louvre-Bestand befindliche Bilder handelt, referiert und in den entsprechenden Katalogtext eingearbeitet werden.
Rosenberg baut seine Einträge denen Blunts vergleichbar auf, wenn er erst die Provenienz eines Werkes darlegt, hierauf den eigentlichen, Kommentar, Interpretation und Würdigung verbindenden Haupttext folgen lässt und sodann mit Hinweisen zur Bibliografie, zu Bezugswerken (wie zum Beispiel Kopien), Zeichnungen und Nachstichen schließt. Allerdings fallen alle diese Rubriken bei Rosenberg sehr viel ausführlicher aus als bei Blunt: Wo z.B. Blunts Eintrag zu Poussins "Mannalese" (No. 21, 18) auf eine Dreiviertelseite kommt und 46 Literaturtitel in zwei halben Spalten auflistet, umfasst er bei Rosenberg (bei gleichem Seitenformat und die oftmals seitenfüllenden, wie im ganzen Katalog äußerst qualitätsvollen Farbabbildungen nicht mit eingerechnet) fünfeinhalb Textseiten, wo nun mehr als 245 Titel fast drei Kolonnen füllen (No. 16, 160-169).
Als ein großes, zudem auch qualitatives Plus erweisen sich die hier regelmäßig gemachten Angaben über technische Untersuchungen zu Poussins Malweise und zum Erhaltungszustand der Bilder, die bei Blunt nur sporadisch thematisiert werden. Anders als dieser ordnet Rosenberg die Einträge auch nicht thematisch, sondern chronologisch an; im Anhang folgende Konkordanzen zu den Katalogen von Blunt und Thuillier (1994) helfen hier, den Überblick zu behalten.
Natürlich ist von einem solchen, eher einen Sach- und Forschungsstand erfassenden Katalog nun nicht zu erwarten, dass er mit großen Überraschungen aufwartet. Aber Rosenbergs Buch wird sicherlich produktive Diskussionen anstoßen, wenn er zum Beispiel vertiefende Hinweise auf die konkreten Umstände des bislang mysteriös erscheinenden Transfers von dreizehn Gemälden Poussins aus der Sammlung des Duc de Richelieu an Ludwig XIV. liefert (32-35): Aufgrund von Chronistenangaben schien es bislang so, als habe der Duc die Gemälde aufgrund von Schulden sowie wegen einer verlorenen Jeu de paume-Partie verloren. Rosenberg kann jedoch zeigen, dass es sich hierbei wohl um den Verschleierungsversuch eines tatsächlich erfolgten, regelrechten Ankaufs zu handeln scheint. Darüber hinaus macht er sich überzeugend zum Anwalt für die Authentizität des bislang stets aus dem Œuvre Poussins gestrichenen Gemäldes "Mars und Venus" (Nr. 1, 44-51). Wobei allerdings die inzwischen entdeckte Inschrift des 17. Jahrhunderts auf der Rückseite irritiert, die das stilistisch ganz offensichtlich in das Frühwerk des Malers gehörende Bild viel zu spät auf 1632 datiert. Handelt es sich bei dem Bild vielleicht doch eher um eine gute Kopie aus dem Jahr 1632? Und ist der Kopist möglicherweise auch für den wiederholt bemerkten Fehler verantwortlich, dass Mars in dem Gemälde offenbar über zwei Helme verfügt (ein Lapsus, der Poussin in der heute in Chantilly aufbewahrten Vorzeichnung nicht unterläuft)?
Demgegenüber etwas knapp fällt die Diskussion eines Gemäldefragmentes mit fünf Putten aus (Nr. 2, 52-57), bei dem Rosenberg sich leider nicht zu dem gegen die Hand Poussins sprechenden teigigen Malstil und - wieder - einen im Gemälde zu beobachtenden Fehler äußert. Denn zu der Gesamtkomposition des Gemäldes gibt es auch einen Stich (Fig. 11), den Poussin mit einer heute ebenfalls im Louvre aufbewahrten Zeichnung (Fig. 10) vorbereitete und auf der ein auf einer Gambe aufspielender Putto den Bogen mit der linken Hand führt, damit den spiegelverkehrenden Druckprozess des Stichs antizipierend. Spielt der Putto dort nun das Instrument korrekt mit der rechten Hand, so folgt das Gemälde der Zeichnung - und zeigt einen Putto, der den Bogen eigentlich mit der falschen Hand führt, was bei einem Künstler wie Poussin, der den Anspruch "Je n'ai rien négligé" [2] für sich reklamierte, eher verwundern würde.
Auch in Bezug auf die von Rosenberg nun akzeptierte Spätdatierung der "Landschaft mit Diogenes" von 1648 auf 1654 (Nr. 34, 290-297) möchte man aufgrund der hierfür vorgebrachten Argumente gerne ein anderes Zitat Poussins bemühen. Er sagte von sich selbst, dass er "point de ceux" sei, "qui en chantans prennent tousiours le mesme ton. et que je scais varier quan je veus". [3] Auf die Diogenes-Landschaft angewendet, würde dies bedeuten, dass Poussin nicht zu einer bestimmten Zeit auf einen bestimmten Stil festgelegt gewesen sein muss und daher durchaus in der Lage gewesen sein kann, 1648 ein Gemälde zu schaffen, das ein anderes Erscheinungsbild aufweist als die anderen in dieser Werkphase entstandenen Arbeiten. Rosenberg selbst scheint im Übrigen an anderer Stelle genau hiervon auszugehen: Die beiden aufgrund unterschiedlicher Stilidiome bislang weiter auseinander datierten Fassungen des "Raubs der Sabinerinnen" aus dem Louvre und dem New Yorker Metropolitan Museum (Nr. 10, 108-119) setzt er als "conçues à des dates rapprochées" unter der impliziten Annahme an, dass Poussin offenbar in der Lage war, zur gleichen Zeit vom Stil her recht unterschiedliche Werke zu schaffen.
Zum Auftakt seines Buches schreibt Rosenberg im Ton des Bedauerns, dass "Catalogues raisonnés" leider ("Hélas!") nicht mehr "à la mode" seien (8). Der von ihm vorgelegte Katalog macht jedoch deutlich, wie sehr man dieser Gattung Unrecht täte, verhielte es sich tatsächlich so. Jenseits von Überlegungen, solche Verzeichnisse künftig vielleicht digital und damit auch flexibler anzulegen [4], sind diese Unternehmen wichtig, denn sie gewähren einer Forschungsgemeinschaft einen notwendigen, da grundlegenden Überblick zu dem im Zentrum stehenden Gegenstandsbereich. Weil er stets 'nur' den spezifischen Moment eines auf das aktuell zu Übersehende und Erfasste gerichteten Blicks dokumentiert, muss ein guter Werkkatalog sich auch daran messen lassen, wie tief und zugleich weit der von ihm gerichtete Blick geht und tragen wird. Angesichts der beeindruckenden Sorgfalt und Weitsicht von Rosenbergs Louvre-Katalog zu Poussin darf man diesem ebenso wie dem in Vorbereitung befindlichen Gesamtverzeichnis - vergleichbar demjenigen Blunts, das für mehr als 50 Jahre ein Referenzwerk darstellte - eine längere Gültigkeit voraussagen.
Anmerkungen:
[1] John Smith: A Catalogue Raisonné of the Works of the Most Eminent Dutch, Flemish, and French Painters, Bd. 8, London 1837; Otto Grautoff: Nicolas Poussin: Sein Werk und sein Leben, 2 Bde., München / Leipzig 1914; Walter Friedlaender: Nicolas Poussin. Die Entwicklung seiner Kunst, München 1914; Anthony Blunt: The Paintings of Nicolas Poussin. A Critical Catalogue, London 1966; Jacques Thuillier: Tout l'œuvre peint de Poussin, Paris 1974 / L'opera completa di Poussin, Mailand 1974; Doris Wild: Nicolas Poussin. Leben - Werk - Exkurse, 2 Bde., Zürich 1980; Christopher Wright: Poussin Paintings. A Catalogue Raisonné, London 1985; Jacques Thuillier: Nicolas Poussin, Paris 1994.
[2] Nicolas Poussin, zitiert nach Thuillier 1994, 209.
[3] Charles Jouanny: Correspondance de Nicolas Poussin, Paris 1911, No. 146, 352: Poussin in einem Brief an Chantelou vom 24. März 1647.
[4] Vgl. zum Beispiel die im Rahmen des Workshops "Werkverzeichnisse 2.0: Print, digital, hybrid?" am 23.11. / 24.11.2016 an der UB Heidelberg diskutierten Überlegungen (https://blog.arthistoricum.net/beitrag/2016/10/17/workshop-werkverzeichnisse-20/).
Henry Keazor