Rezension über:

Christoph Mauntel: Gewalt in Wort und Tat. Praktiken und Narrative im spätmittelalterlichen Frankreich (= Mittelalter-Forschungen; Bd. 46), Ostfildern: Thorbecke 2014, 540 S., 9 Farbabb., ISBN 978-3-7995-4364-4, EUR 55,00
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Rezension von:
Albrecht Classen
The University of Arizona, Tucson, AZ
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Albrecht Classen: Rezension von: Christoph Mauntel: Gewalt in Wort und Tat. Praktiken und Narrative im spätmittelalterlichen Frankreich, Ostfildern: Thorbecke 2014, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 6 [15.06.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/06/25329.html


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Christoph Mauntel: Gewalt in Wort und Tat

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Bei vorliegendem Band handelt es sich um eine für den Druck aufbereitete Heidelberger Dissertation von 2013, in der der Versuch unternommen wird, das Wesen von Gewalt, wie es vor allem in spätmittelalterlichen französischen Chroniken behandelt wurde, anhand einer detaillierten und umfassenden Textanalyse einschlägiger Werke zu erfassen. Dem Autor geht es nicht nur darum, die verschiedenen Formen von physischer Gewalt zu reflektieren, sondern vielmehr den großen Diskurs zur Gewalt, wie er im Spätmittelalter verlief, durch sorgfältige Quellenanalysen in den Griff zu bekommen.

Schon lange ist bekannt, dass das Wort 'Gewalt' selbst eine Fülle von verschiedenen Bedeutungen besitzt und sich nicht einfach auf physische Gewalt reduzieren lässt. Dies illustriert Mauntel speziell anhand französischer Texte, geht dabei jedoch primär auf die Schwierigkeit bei den deutschen Begriffen ein, was sich alles nur bedingt auf die französische Sprachsituation übertragen lässt. Wie er gut belegt, gab es vielfache Diskussion darüber, wie kriegerische und verwandte Handlungen zu beurteilen seien, was oftmals gerade die Kirche in Konflikt mit dem Hof und seinen ritterlichen Heeren brachte. Menschliche Gier und Hass, der sprichwörtliche Futterneid und das ununterbrochene Streben nach Besitzerweiterung im privaten wie im öffentlichen Bereich walteten selbstverständlich schon im Mittelalter und waren beileibe kein Alleinstellungsmerkmal jener Epoche.

Der Autor reflektiert zunächst zufriedenstellend über die Ambiguität des Begriffes 'Gewalt' und über die verschiedenen Methoden, sich dem Phänomen selbst aus moderner Sicht zu nähern. Wie bereits das dritte Kapitel überaus deutlich macht, gab es sehr unterschiedliche Perspektiven auf den Krieg, sei es aus der Sicht des Ritterstandes bzw. der Söldner, sei es aus der Sicht des Klerus, des Hofes bzw. der Regierung, der Stadtbewohner und der universitätsgebildeten Intellektuellen (die bäuerliche Schicht, die sowieso am meisten zu leiden hatte, kommt kaum zur Sprache). Darauf widmet er sich den verschiedenen Formen der Gewalt, sei es in Form von Krieg und Aufständen, sei es in Form von persönlich ausgeübter oder verfolgter Gewalt. Ganz bewusst nimmt Mauntel Abstand davon, von 'Mentalität' zu sprechen, um stattdessen sehr viel spezifischer vom 'Imaginaire' bzw. 'Vorstellungsgeschichte' auszugehen, was ihm ermöglichen soll, noch präziser als bisher die menschlichen Projektionen von Gewalt wahrzunehmen. Mir scheint dies aber zu vage zu sein, denn 'Mentalitätsgeschichte' schließt all dies sowieso ein und berücksichtigt genauso die subjektive Darstellungsweise der historischen und literarischen Quellen. Ein gründlicher Blick auf die verschiedenen Arbeiten von Peter Dinzelbacher hätte hier für Abhilfe gesorgt. Abgesehen davon erweist sich die hier gewählte Herangehensweise an Gewalt als sehr pragmatisch, ist aber keineswegs innovativ. [1] Dies schließt auch ein, wie Strafmaßnahmen seitens der Obrigkeiten durchgeführt und dann von Chronisten beurteilt wurden. Gerade der Schwerpunkt auf dem spätmittelalterlichen Frankreich erweist sich als ergiebig, weil dort der Hundertjährige Krieg tobte (1337-1453).

Im folgenden Kapitel geht der Autor auf die Methoden des Kampfes bzw. des Tötens der Gegner im Einzelkampf ein, wobei auch Fragen nach individueller körperlicher Überlegenheit, nach der Reaktion auf Wunden, nach Blut und Leichen bzw. deren (Miss)Behandlung aufgeworfen werden. Wenn jemand Gewalt ausübt, kann dieser je nach äußeren Umständen und sozialen Bedingungen entweder als 'Held' oder als 'Schurke' bezeichnet werden, während es trotzdem eigenartige Figuren gibt, die nicht einfach glorifiziert oder verurteilt werden können, so beispielsweise repräsentiert einerseits durch die Mystikerin Jeanne d'Arc, andererseits durch den Massenmörder Gilles de Rais. Natürlich genießt erstere heute den Ruf einer unschuldig hingerichteten Heiligen, während letzterer als Psychopath und Geisteskranker gilt. Die Quellenbelege sprechen für die Korrektheit der extremen Positionen für beide Personen.

Mauntel stützt sich überwiegend auf die spätmittelalterliche französische Historiografie (z.B. Froissart), was den Blickwinkel ein wenig einengt, ohne dass dies hier als Kritikpunkt anzusehen wäre. Aber gerade bei der Betrachtung davon, wie das massenhafte Vergießen von Blut beurteilt wurde, wünschte man sich doch eine Ausweitung der Perspektive auf solche literarischen Werke wie das anonyme Nibelungenlied (Mittelhochdeutsch) oder zumindest die Chanson de Roland, wo das Kriegerethos absoluten Wert besitzt und Massensterben fast ohne Kommentar dargestellt wird.

Am wichtigsten dürfte sein, dass Mauntel viele verschiedene Formen des Kampfes bzw. der Gewaltausübung isoliert und analysiert. Von großer Relevanz erweisen sich die Bemühungen von einzelnen Gruppen, mittels eines Aufstands ihre politischen Ziele durchzusetzen. Genauso interessant sind die Betrachtungen von personaler Gewalt in Form von Zweikämpfen und Duellen, von Mord, speziell Vergiftung, Folter, Strafriten und dergleichen mehr. Mit großem Interesse liest man auch die Analyse derjenigen Stellen in den verschiedenen Chroniken, wo der getötete Körper in den Blick gerät. Physische Stärke wird überall extrem idealisiert, was selbst bei Verstümmelungen im Krieg eine überragende Rolle spielt. Das Vergießen von Blut galt als eine schwere Sünde für Kleriker, aber im Krieg flossen ganze Ströme von Blut. Die relevante Forschung zum Thema 'Blut' hat aber der Autor offensichtlich nicht so recht wahrgenommen, evtl. weil dort oftmals etwas andere Schwerpunkte berücksichtigt werden und es nicht spezifisch um kriegerische Gewalt geht. [2] Will man aber Imaginations- oder Mentalitätsgeschichte betreiben, sollten auch solche Aspekte mitberücksichtigt werden.

Mauntel darf man sehr dafür loben, stringent die Quellen ausgewertet zu haben, doch scheint er dabei zunehmend die kritischen Perspektiven vernachlässigt zu haben. Dies wird z.B. bei der gewiss faszinierenden Behandlung von Leichen deutlich, die man entweder würdig bestattete oder brutal misshandelte. [3] Es wäre bestimmt sinnvoll gewesen, in diesem Kontext auch die literarischen und religiösen Quellen heranzuziehen und dazu kunsthistorisches Material zu berücksichtigen, aber man kann bereits der These zustimmen, dass "der Körper als hochsignifikanter thematischer Aspekt" (385) angesehen wurde.

Als Ergebnis trifft es bestimmt zu, dass im Spätmittelalter die Gewaltbereitschaft und Brutalisierung des Krieges, der selbst vor Kindern und Frauen nicht Halt machte, zunahm, wie uns jedenfalls die französischen Chronisten zu verstehen geben. Zu fragen wäre jedoch, welche Gründe dafür ausschlaggebend sein könnten und wie die Gesellschaft insgesamt, speziell der Königshof, dann die Kirche und die Dichter u.a.m. darauf reagierten. Mauntel zieht zumindest am Rande ein paar Kommentare von Christine de Pizan mit ein, die sich heftig über den Verlust der Menschlichkeit beklagte. Hier wäre also noch viel Raum und Material, um diese Phänomene umfassender zu verfolgen.

Generell aber darf man Mauntel hohe Anerkennung dafür aussprechen, sein Thema umfassend und überzeugend behandelt zu haben. Ein Personen- und Sachregister (viel zu kurz) schließen diesen Band ab. Die sehr umfangreiche Bibliografie belegt, wie gründlich sich der Autor mit der speziellen Forschung auseinandergesetzt hat, auch wenn, wie bereits oben angezeigt, einige schmerzliche Lücken zu registrieren sind. Neun farbige Abbildungen sind aufgenommen worden, aber die Qualität lässt doch sehr zu wünschen übrig (zu klein und manchmal zu dunkel). Bedrückt schließt man dieses Buch, bei dem wir in Anbetracht der heutigen Situation in so manchen Ländern Afrikas und des Mittleren Ostens fast nur urteilen können, dass sich die Menschheit kaum wesentlich gebessert hat.


Anmerkungen:

[1] Vgl. Richard Kaeuper: War, Justice, and Public Order, Oxford 1988; Ders. (ed.): Violence in Medieval Society, Woodbridge 2000; Albrecht Classen (ed.): Violence in Medieval Courtly Literature, New York (u.a.) 2004.

[2] Vgl. z.B. Caroline Walker Bynum: Wonderful Blood, Philadelphia 2007.

[3] Vgl. dazu jetzt Romedio Schmitz-Esser: Der Leichnam im Mittelalter, Ostfildern 2014.

Albrecht Classen