Monique Chatenet / Alexandre Gady (éds.): Toits d'Europe. Formes, Structures, Décors et Usages du toit à l'Époque moderne (XVe-XVIIe siècle) (= Collection de Architectura; Vol. 16), Paris: Picard 2016, 247 S., zahlr. Abb., ISBN 978-2-7084-1016-9, EUR 52,00
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Alexandre Gady: Jacques Lemercier. Architecte et ingénieur du Roi, Tours: Maison des Sciences de l'Homme 2005
Monique Chatenet / Murielle Gaude-Ferragu / Gérard Sabatier (eds.): Princely Funerals in Europe 1400-1700. Commemoration, Diplomacy, and Political Propaganda, Turnhout: Brepols 2021
Konrad Ottenheym / Monique Chatenet / Krista De Jonge (eds.): Public Buildings in Early Modern Europe, Turnhout: Brepols 2010
In allen Epochen der europäischen Architekturgeschichte diente das Dach nicht nur als Schutz vor den Unbilden der Witterung, sondern auch als Ausdrucksmittel. Dies ist durchaus nicht selbstverständlich, denn ein Blick auf die vergleichende Architekturgeschichte lehrt, dass viele - rein zahlenmäßig wohl die meisten - Kulturen ein "dachloses Bauen" auszeichnet, bzw. dass dort das Dach als bewohnte Terrasse konzipiert wird und deshalb nicht als eigenständiges Bauelement in Erscheinung treten kann. [1] In Europa ist das Thema allerdings von grundlegender Bedeutung. Das Centre André Chastel in Paris widmete dem "europäischen Dach" 2013 ein dreitägiges Kolloquium, dessen Beiträge der vorliegende Band versammelt.
Innerhalb der architektonischen Kulturen, die eine prominente Dachentwicklung auszeichnet, hat Europa insoweit eine Sonderrolle inne, als das Dach nicht nur ein dominantes Element der Gliederung des Baukörpers ist, sondern zugleich auch ein Mittel zur Nobilitierung öffentlicher oder herrschaftlicher Bauwerke. Dies führt dazu, dass im Dach gelegentlich sogar herrschaftliche Nutzungen angesiedelt werden, wie beispielsweise die 'Chambre Haute', eine ausschließlich dem Bauherren vorbehaltene Aussichtskammer über der Haupttreppe im französischen Schloss des 16. Jahrhunderts. Daneben gibt es auch eine Tradition der "Unsichtbarmachung" des Daches in den verschiedenen regionalen Ausprägungen der europäischen Renaissance, wo die üblichen Satteldächer hinter hohen Attiken verschwinden oder sogar in Dachterrassen verwandelt werden.
Diese Sonderform des Daches, die sich in den regenreichen Regionen des mittleren und nördlichen Europas eigentlich verbieten würde, konnte sich dennoch überall durchsetzen, da sie einem ästhetischen Ziel, nämlich der Betonung der orthogonalen Stereometrie des Baukörpers, diente. Insbesondere die italienische Renaissance und ihre gesamteuropäische Nachfolge hat den Aspekt einer Vermeidung der Dachschrägen konsequent herausgearbeitet. Der berühmte Dächerstreit der Moderne steht letztlich in der gedanklichen Nachfolge dieser ästhetischen Tradition. Insoweit ist es unbedingt verdienstvoll, eine Anthologie zur Baugeschichte des europäischen Daches vom 15. bis 17. Jahrhundert zusammenzustellen, denn das Thema ist absolut zentral für das Architekturverständnis der gesamten Neuzeit.
Der Band versammelt 15 Aufsätze zum Thema, sieben zu französischen Dächern, je einen zu brabantischen, italienischen, polnischen, böhmischen und englischen sowie drei zu mediterranen Dachterrassen. Das Hauptgewicht liegt somit auf der französischen Tradition. Dies ist durchaus verständlich, da es sich um ein in Paris ausgerichtetes Kolloquium handelt und auch deswegen, weil der Architektur des Daches in der französischen Renaissance eine herausragende Rolle zukommt. Zudem wurde das französische Steildach von den Architekten der Renaissance, insbesondere von Sebastiano Serlio, architekturtheoretisch reflektiert und in einer Reihe von Musterentwürfen bearbeitet, denen eine weitreichende Wirkung in den folgenden Jahrhunderten beschieden war.
Die 15 Beiträge behandeln ihr Thema durchweg auf hohem Niveau, einige sind geradezu herausragend. Dazu zählt die einführende Übersicht von Jean Guillaume, der versucht, die gesamteuropäische Bedeutung des Themas herauszuarbeiten. Sehr lesenswert ist auch der Aufsatz von Krista De Jonge zu flämischen Zwiebelkuppeldächern, die im 16. Jahrhundert in Brabant entwickelt wurden und dann in der Folgezeit zu einem Element der habsburgischen Identitätsstiftung werden sollten. Arturo Zaragoza Catalan gibt eine interessante Übersicht über die Dachterrassen der Iberischen Halbinsel, die von der Literatur bisher wenig beachtet worden sind. Viel Neues enthält auch der Beitrag von Marco Rosario Nobile über sizilianische Terrassendächer zwischen dem 15. und 16. Jahrhundert, die selbst ausgewiesenen Italienkennern nicht unbedingt vertraut sein dürften.
Bedauerlich ist es, dass die deutschsprachige Literatur zum Thema, auch und gerade zu den französischen und italienischen Dächern, überhaupt keine Beachtung findet. Dabei hat gerade die deutschsprachige Baugeschichte unsere Kenntnis der konstruktiven Voraussetzungen der italienischen Dachterrassen wesentlich erweitert, ohne die gerade dieses Thema eigentlich gar nicht kompetent zu diskutieren ist. So wird beispielsweise die Dissertation von Anke Fissabre, Dachterrassen der Renaissance (Aachen 2009), in keinem der Beiträge zitiert. Zwei der wichtigsten Dachlandschaften der italienischen Renaissance, die Dachterrassen Genuas und die Holzaltane Venedigs kommen in dem Buch überhaupt nicht vor. Auch die Dachterrasse der Villa Imperiale, deren Konstruktion eine bautechnikgeschichtlich hochinteressante Weiterentwicklung der Lösungen im Palazzo Ducale von Urbino darstellt, wird nirgendwo erwähnt.
Der Grund für die fast vollständige Abwesenheit der deutschsprachigen Wissenschaft zum Thema ist zweifelsohne die international abnehmende Kenntnis dieser Sprache und damit der Verfall einer europäischen Wissenskultur, für die es eine Selbstverständlichkeit war, wissenschaftliche Texte in den wichtigsten romanischen und germanischen Sprachen lesen zu können und mindestens zwei, in der Regel aber Englisch, Französisch, Italienisch und Deutsch, auch als Publikations- und Vortragssprache zu beherrschen.
Erstaunlicher noch als die Nichtwahrnehmung der deutschsprachigen Literatur zum Thema ist aber die Tatsache, dass die Sache selbst, die reiche architektonische Kultur der verschiedenen Dachtypologien in den deutschsprachigen Ländern, überhaupt nicht vorkommt. Es ist nicht nachzuvollziehen, wie ein Buch "europäische Dächer" betitelt werden kann, wenn ganz Mitteleuropa fehlt, wenn weder - um nur einige Beispiele anzusprechen - die formenreichen Dachlösungen der norddeutschen Hallenkirchen noch die bayerischen Grabendächer erwähnt werden, ebenso wenig wie die rheinischen Rhombendächer oder die in allen Städten des Donauraumes verbreiteten Adaptionsformen der Genueser Dachterrassen und der venezianischen Altane.
Diese architektonischen Traditionen werden lediglich in zwei Beiträgen erwähnt, eher beiläufig in dem einführenden Aufsatz von Jean Guillaume, und dann in einem Beitrag über das "polnische Dach" und die "polnische Attika" von Anna Arciszewska. Dort allerdings werden neben den unstrittig und sehr eigenständigen polnischen Dachformen auch die Beispiele aus Schlesien und der Westukraine als "polnisch" verbucht, was historisch einfach nicht korrekt ist. Ansonsten ist in den 15 Aufsätzen von den außerordentlich formenreichen Dachlandschaften Mitteleuropas nicht weiter die Rede.
Kritisch anzumerken ist ferner, dass dem Buch eine systematische Einführung fehlt, die nicht nur die vorgestellte Auswahl zur historischen Entwicklung des Daches vom 15. bis 17. Jahrhundert in den Blick nimmt, sondern darzustellen versucht, welche grundlegende Bedeutung das Dach in der architektonischen Gestaltfindung über die Jahrhunderte hinweg immer besessen hat. Bis hin zu den Kontroversen um das "flache Dach" im 19. und 20. Jahrhundert, die schließlich Ende der 1920er-Jahre im sprichwörtlichen "Zehlendorfer Dächerstreit" gipfelten. Dann wäre augenblicklich deutlich geworden, welche kulturelle Dimension dieser Stoff insgesamt besitzt und warum es so wichtig ist, sich gerade mit diesem Thema in der baugeschichtlichen Forschung zu befassen. So bleibt es bei einer Aneinanderreihung ganz unterschiedlicher Fallbeispiele, die allerdings jedes für sich sehr detailliert und kenntnisreich abgehandelt werden. Ein durchaus lesenswertes Buch also, aber kein Buch über die "Toits d'Europe".
Anmerkung:
[1] In der Architektur des islamischen Orients vom Maghreb bis Afghanistan kommt das Dach als architektonisches Ausdrucksmittel praktisch nicht vor, ebenso wenig in den altamerikanischen Kulturen der Maya, Azteken und Inka. Dagegen spielt es in den Bautraditionen des Monsungürtels Asiens eine ganz herausragende Rolle, die zu Sonderentwicklungen geführt hat, die nur dort vorkommen. Beispielsweise sei hier die sphärisch gekrümmte, in mehreren Richtungen gebogene und tief herabgezogene Dachhaut des "bengalischen" Daches erwähnt, oder die hyperboloiden Dachkonstruktionen der Batak auf der Insel Samosir im Tobasee (Sumatra). Auch in China, Japan und anderen Kulturen Ostasiens besitzt das Dach als Ausdrucksform eine besondere Bedeutung.
Jan Pieper