Romy Langeheine: Von Prag nach New York. Hans Kohn. Eine intellektuelle Biographie, Göttingen: Wallstein 2014, 248 S., ISBN 978-3-8353-1549-5, EUR 29,90
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Die Nation als moderne Gemeinschaftsform eines imaginierten politischen oder ethnischen Kollektivs erfuhr im 18. Jahrhundert im Zuge der europäischen Aufklärung ihren Aufstieg und löste überkommene vormoderne, ständisch-religiöse Gemeinwesen ab. Mit ihr trat der Nationalismus seinen Siegeszug an und entfaltete seit der Französischen Revolution von 1789 eine Wirkungsmacht, die bis heute nichts von ihrer Aktualität eingebüßt hat und deren Anziehungskraft als Identifikationsinstanz ungebrochen fortwirkt - wie der Rückgriff auf nationale Selbstvergewisserung im Gewand von Brexit, Trump, Le Pen und AfD zeigt. Einer, dessen Leben von den Nationalismen des 19. und 20. Jahrhunderts geprägt wurde und der sein wissenschaftliches Werk der Erforschung dieser Phänomene verschrieben hatte, war der Publizist und Historiker Hans Kohn (1891-1971).
In ihrer Studie Von Prag nach New York - Hans Kohn. Eine intellektuelle Biographie erforscht Romy Langeheine das Leben und Werk dieses herausragenden Intellektuellen. Seine Entwicklung vom Vordenker des Kulturzionismus um Martin Buber und Aktivisten der zionistischen Bewegung der 1910er- und 1920er-Jahre zu einem ihrer entschiedensten Kritiker, der mit der zionistischen Bewegung brechen sollte, bildet die Grundlage für seinen intellektuellen Werdegang. Als Nationalismusforscher hat er sich infolgedessen einen Namen in den Vereinigten Staaten von Amerika gemacht und ist mit seiner als "Kohn-Dichotomie" in die Forschung eingegangenen Aufteilung des Nationalismus in einen westlichen und einen östlichen Typus zu Berühmtheit gelangt. Langeheine hat mit diesem Buch Hans Kohn nun einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht und somit eine längst überfällige Biografie von einem bedeutenden jüdischen Denker des 20. Jahrhunderts vorlegt, deren wissenschaftliche Aufarbeitung in einer umfassenden Monografie über 40 Jahre ihrer Bearbeitung harrte.
Anders als die Mehrheit der bisherigen Arbeiten, die den Schwerpunkt auf Kohns Nationalismustypologie legen oder seine Bedeutung für die Geschichte des Zionismus in den Vordergrund stellen, versucht sich Langeheine an einer Verschränkung dieser beiden Ebenen - und dies mit großem Erfolg. So vermag sie aufzuzeigen, wie sein Denken erst durch seine biografische Entwicklung verständlich wird; wie seine Ideen zum Nationalismus durch seine Beschäftigung mit dem Judentum und der jüdischen Nationalbewegung, dem Zionismus, geformt werden. Dabei wählt die Autorin einen "Mittelweg" (15), der die Positionen von Noam Pianko und Adi Gordon zu vereinen sucht, indem sie weder einseitig die Kontinuitäten innerhalb von Kohns Denken hervorhebt, noch die biografischen oder ideologischen Brüche in den Vordergrund stellt. [1]
Neben der Sekundärliteratur, und den bereits veröffentlichten Quellen - wie Kohns Autobiografie, sowie dem 1973 publizierten Briefwechsel zwischen Hans Kohn und Martin Buber - kann Langeheine auch auf unveröffentlichtes Quellenmaterial aus Kohns privatem Nachlass zurückgreifen. Insbesondere seine Tagebücher und die Korrespondenz mit seinem lebenslangen Freund Robert Weltsch erweisen sich als aufschlussreich. So zum Beispiel, wenn die Autorin hierin bereits für die frühen 1920er-Jahre Zweifel an der zionistischen Bewegung nachzuweisen vermag.
Die Arbeit, die auf Langeheines Dissertation an der University of Sussex beruht, gliedert sich in vier Hauptkapitel, die chronologisch den Lebensstationen Hans Kohns folgen: Prag - Russland - Palästina - Vereinigte Staaten von Amerika. Im ersten Kapitel leitet die Autorin schlüssig Kohns Hinwendung zur zionistischen Bewegung aus seiner Prager Erfahrung her, die durch "das Phänomen eines allgemeinen Krisengefühls der Jugend um die Jahrhundertwende" (64) gekennzeichnet gewesen sei, und dazu geführt habe, dass Hans Kohn 1908 dem Studentenverein Bar Kochba beitrat, wo er mit dem Kulturzionismus um Achad Ha'am und Martin Buber in Berührung kam.
Das zweite Kapitel behandelt Kohns Einsatz im Ersten Weltkrieg als Offizier der habsburgischen Armee sowie seine anschließende fünfjährige Kriegsgefangenschaft in Zentralasien und Sibirien. Angesichts der Schrecken des Krieges erkannte er die Gefahren eines entfesselten Nationalismus und übertrug diese Erkenntnis auf den Zionismus, der eine "universal ethische Weitung" (97) in seinem Denken erfuhr. Als größte Gefahr für die zionistische Bewegung in Palästina sah Kohn eine Politik, die die Interessen der arabischen Bevölkerung außer Acht lasse. Er erklärte den Umgang mit dieser zum Prüfstein des Zionismus.
Das dritte Kapitel wendet sich Kohns Zeit in Palästina zu, während derer er versuchte, sein Konzept eines "ethischen Nationalismus" (25) umzusetzen. Er forderte, dass politisches Handeln primär an moralischen Maßstäben orientiert sein müsse und sprach sich gegen Bestrebungen nach einer territorialen Souveränität des Jischuw aus. Stattdessen setzte er sich für eine transnationale politische Ordnung in Palästina ein. Doch mit diesen Positionen blieb Kohn innerhalb der zionistischen Bewegung Palästinas immer eine randständige Figur. Als die Auseinandersetzungen um die Klagemauer im August 1929 Kohn dazu veranlassten, die Übergriffe der arabischen Bevölkerung als "Ausdruck eines arabisch-nationalen Unabhängigkeitskampfes" (165) zu charakterisieren, überschlugen sich die Stimmen, die seine Entlassung aus dem zionistischen Gründungs-Fond Keren Hajessod forderten. Kurze Zeit später erklärte Kohn tatsächlich seinen Rücktritt und brach mit der zionistischen Bewegung. 1934 verließ er Palästina und siedelte nach New York über.
Im abschließenden vierten Kapitel wird Kohns Leben in den Vereinigten Staaten von Amerika ab den 1930er-Jahren beleuchtet, welches von der theoretischen Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Nationalismus bestimmt war. Hier schrieb Kohn mit der Veröffentlichung seines Hauptwerks "Die Idee des Nationalismus" im Jahr 1944 Wissenschaftsgeschichte. Dabei vollzog er mit der Übersiedlung in die Vereinigten Staaten von Amerika auch eine Anpassung seiner Nationalismustheorie, indem er seinen ethischen Nationalismus nun bereits in den Vereinigten Staaten von Amerika verwirklicht glaubte. Die Publikation schließt mit einer umfangreichen Bibliografie. Auf einen Index wurde aber leider verzichtet.
Bedauerlich ist auch, dass die Tätigkeit Hans Kohns als Beamter des Keren Hajessod in den 1920er-Jahren "in einer ideologischen Schlüsselfunktion" (135) der Zionistischen Weltorganisation nur knapp beleuchtet wird. Ein Besuch in den Central Zionist Archives in Jerusalem hätte hier sicherlich interessantes Material zutage fördern können. So war Kohn über seine bloße Propagandatätigkeit für das zionistische Projekt in Europa hinaus, auch in der arabischen Welt tätig, von wo er 1928 einen Bericht über die jüdischen Gemeinden Ägyptens verfasste. [2] Zudem leidet die Narration bisweilen unter der recht stringenten Trennung von Werkanalyse und Biografie. Insgesamt ist Romy Langeheine mit dieser Publikation jedoch ein wichtiger Schritt in Richtung einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Werk Hans Kohns und seiner Biografie gelungen, die eine der weitsichtigsten Persönlichkeiten der zionistischen Bewegung wiederentdeckt. Vor allem Hans Kohns multiple Verwandlungen - vom Antiliberalen und Kriegsbefürworter zum Pazifisten und Sozialisten hin zum Anti-Isolationisten im Zweiten Weltkrieg und schließlich zum liberalen, aufgeklärten Amerikaner, Anti-Kommunisten und Zionismus-Kritiker - sind dabei interessant. Die biografische Verortung dieser Wandlungen sowie das Aufzeigen der darin befindlichen Kontinuitäten - sein Festhalten am Nationalismus als historischer Kraft, dem ein positives, die Menschheit einigendes Potential inne sei - sind die großen Verdienste dieser Arbeit.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Noam Pianko: Zionism and the Roads not Taken. Rawidowicz, Kaplan, Kohn, Bloomington 2010; Adi Gordon: The Ideological Convert and the Mythology of Coherence. The Contradictory Hans Kohn and his Multiple Metamorphoses, in: Leo Baeck Institute Year Book 55 (2010), 273-293.
[2] Gudrun Krämer: Minderheit, Millet, Nation? Die Juden in Ägypten 1914-1952, Wiesbaden 1982, 193.
Maja Ščrbačić