David Wallace (ed.): Europe. A Literary History, 1348-1418, Oxford: Oxford University Press 2016, 2 Bde., LXXXIV + 1591 S., 93 s/w-Abb., ISBN 978-0-19-873535-9, GBP 180,00
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An Literaturgeschichten, die sich der Zeit des Mittelalters widmen, besteht kein Mangel. Vorliegende zweibändige, von David Wallace, Professor für Englische Literatur an der University of Pennsylvania, herausgegebene "Literary History" Europas unterscheidet sich von anderen Darstellungen jedoch in zwei wesentlichen Punkten: der chronologischen Verkürzung und der geographischen Weitung. Die in den Bänden behandelte Zeitspanne umfasst lediglich ein knappes Menschenleben - einsetzend mit dem Jahr 1348, das den Beginn der Pandemie des "Schwarzen Todes" markiert, endend mit dem Jahr 1418, als die Verwerfungen des 1378 einsetzenden "Großen Schismas" durch das Konstanzer Konzil beseitigt werden konnten. Europa ist (zumindest geographisch betrachtet) kein Kontinent und verfügt insbesondere im Osten über keine klar definierten Grenzen. Dies machte es nicht einfach zu entscheiden, welche Länder bzw. Regionen überhaupt Bestandteil einer solchen Literaturgeschichte Europas sein sollten. Armenien und die Kiewer Rus galten bereits im Mittelalter als Grenzregionen, "knifeedged between east and west" (xxviii), wie der Herausgeber in seiner lesenswerten "general introduction" betont. Doch sind die "europäischen Elemente" in diesen Regionen derart stark ausgeprägt, dass eine Aufnahme in die vorliegende Geschichte geboten war. Dies gilt ebenso für Zypern, das von seiner geographischen Lage her wohl eher der asiatischen Landmasse zugeschlagen werden müsste, dessen eigene Geschichte jedoch denkbar eng mit der europäisch-französischen verknüpft ist. Nicht nur aktuellen kulturpolitischen Erwägungen ist die Aufnahme von Kapiteln zu "Alexandria and Cairo" oder "Damascus" geschuldet, Orte, deren Literaturproduktion in den 70 behandelten Jahren zwar sicherlich nicht maßgeblichen Einfluss auf das ausgeübt hat, was Schriftstellern und Dichtern in Dublin, Santiago oder Turku aus der Feder floss, die aber gleichwohl noch zum "Dunstkreis" Europas gehörten.
Wer befürchtet hat, mit einer bloßen Aneinanderreihung einzelner nationaler Literaturgeschichten konfrontiert zu werden, wird erleichtert aufatmen. Erkenntnisleitend war ganz offensichtlich nicht das Stereotyp (nationaler) Abgrenzung, im Gegenteil: in nahezu allen Beiträgen wird der stete Austausch von Menschen und Ideen als Grundlage jedweden literarischen Schaffens betont. Die zwei Bände sind in zehn große geographische Abschnitte gegliedert, die in Einzelfällen die heutigen Grenzziehungen widerspiegeln, zumeist jedoch auf territoriale Zusammenhänge verweisen, aus denen heraus sich erst zu einem sehr viel späteren Zeitpunkt das entwickeln sollte, was die europäischen Landkarten heute prägt (I. Paris to Béarn; II. Calais to London; III. St Andrews to Finistère; IV. Basel to Danzig; V. Avignon to Naples; VI. Palermo to Tunis; VII. Cairo to Constantinople; VIII. Mount Athos to Muscovy; IX. Venice to Prague; X. Nations of Europe, 1414-1418).
Handel, Reisen, Sprache, religiöse Praxis werden als verbindende Elemente begriffen, die die Basis für die Entfaltung dessen bieten, was wir heute unter Literatur verstehen. Im vierten, "Basel to Danzig" überschriebenen Abschnitt wird dies besonders deutlich: hier folgt man in den einzelnen Kapiteln dem Verlauf des Rheins - von Basel und Straßburg über Köln, Brüssel, Brügge, Den Haag, Deventer und Zwolle bis hin nach Lübeck. Das Reisen, die stete Mobilität prägte auch einige der bedeutendsten Autoren des späten Mittelalters - die denn auch nicht nur in einem, sondern in mehreren Kapiteln auftauchen können, so etwa Richard FitzRalph, dessen Karriere in Dublin ihren Anfang nahm (Kapitel 23), der in Oxford studierte (Kapitel 12), in Avignon in kirchenpolitische Händel verstrickt war und dort bemerkenswerte theologische Werke verfasste (Kapitel 40). Fast ist man dankbar, dass die "großen" Namen in der internen Gliederung der beiden Bände hinter den "Orten" zurücktreten. So eröffnet der Blick auf Italien gänzlich neue Perspektiven, wenn er einmal nicht exklusiv auf die drei Großen, die "tre corone", Dante, Petrarca und Boccaccio gerichtet ist. Erfreulich auch, dass aus diesen "tre corone" durch eine stärkere Berücksichtigung von Katharina von Siena und Birgitta von Schweden mindestens fünf werden.
Grenzerfahrungen scheinen literarischem Schaffen besonders förderlich gewesen zu sein. Diesen Eindruck erhält man zumindest, liest man etwa die entsprechenden Kapitel zu Chester and Cheshire (Robert W. Barrett, 240-255) oder zu Yorkshire and York (Ralph Hanna, 256-278). Wer durch den Kreuzgang der Abtei von St. Werburgh läuft, seit Heinrich VIII. und dessen erbarmungsloser Politik von Klosterauflösungen Kathedrale des Bistums Chester, wird auf einer der Buntglassscheiben die Darstellung eines blaugekleideten Mönchs sehen: Ranulph Higden, der in den Klostermauern sein Polychronicon, eine bis in die 1340er Jahre reichende Universalgeschichte, vollendete, derart einflussreich, dass sich ein Großteil der nach 1340 auf englischem Boden entstandenen Chroniken auf dieses Werk bezog, so z. B. Adam of Usk oder Thomas Walsingham. Robert W. Barrett verweist überzeugend auf die Verarbeitung von Grenzerfahrungen in Higdens Werk, grenzte Chester als unabhängige Grafschaft doch unmittelbar an Wales, mit dem der intellektuelle Austausch trotz aller kriegerischen Handlungen auch im späten Mittelalter fortgesetzt wurde.
Ralph Hanna wird nicht müde, das Yorkshire als "the centre of Northern Otherness" (256) zu beschreiben, in dem lediglich der Süden starkem englischen Einfluss mit ausgeprägten städtischen Traditionen unterlag. Der Norden um die "Hauptstadt" York agierte kulturell jedenfalls sehr viel eigenständiger. Nicht von ungefähr zählt das nördliche Yorkshire als Rückzugsort der Zisterzienser, die in der Einöde mächtige Abteien errichtet und im 12. und 13. Jahrhundert bedeutende literarische Werke verfasst hatten - ein Strom, der bis 1348 zu einem Rinnsal verkümmert war. Hanna wird der Bedeutung eines Richard Rolle ebenso gerecht wie dem "York Play", das als "craft-sponsored effort drawing on an equally dispersed reservoir of secular clerical talent" und Ausdruck städtischer Unabhängigkeit von klerikaler Oberaufsicht durch den Erzbischof von York, die Kathedralkanoniker oder den Abt von St. Mary's beschrieben wird. Mit ihm konkurriert (allerdings ganz und gar nicht performativ angelegt) das für den Yorkshire wohl typischste literarische Produkt, das "encyclopaedic instructional poem", dessen Hochzeit zwischen 1290 und 1375 anzusiedeln ist; dazu gehört "The Pricke of Conscience" aus den 1340er Jahren, gewidmet den "Vier Letzten Dingen" und - erstaunlich genug - in einem Glasfenster (ca. 1410) einer der vielen mittelalterlichen Pfarrkirchen Yorks verewigt. Gerade in diesem Fall einer fast zeitgenössischen Verarbeitung von Literatur im Medium des Bildes bedauert man die Entscheidung des Verlages, lediglich Schwundstufen einer Bebilderung zuzulassen: denn auf den kleinformatigen schwarz-weiß Abbildungen erahnt man Sachverhalte zwar, zum ästhetischen Genuss werden sie jedoch kaum. Hanna macht zu Recht darauf aufmerksam, dass diese Dichtungen ihr Schattendasein nicht verdient haben - "The Pricke of Conscience" etwa ist in doppelt so vielen Handschriften wie Chaucers "Canterbury Tales" überliefert. Umso bedauerlicher ist es da, dass der Autor dem Phänomen des "York Play" eine derart große Bedeutung zumisst, dass dafür andere Werke wie etwa die von Klerikern des Nordens verfassten Chroniken oder Predigtzyklen klar ins Hintertreffen geraten.
Nick Havelys Beitrag zu Avignon (650-672) findet sich in dem "Avignon to Naples" überschriebenen fünften Abschnitt, der die engen Austauschbeziehungen zwischen der Stadt an der Rhône und Italien verdeutlicht. Neben Avignon und Neapel finden sich so denn auch Mailand und Pavia, Florenz, Siena und Rom abgehandelt. Wie es der "Internationalität" des Untersuchungsgegenstandes angemessen ist - die "cultural diversity and complexity" Avignons wird zu Recht beschworen (662) -, zeigt sich die Bibliographie ebenfalls international, lediglich die einschlägigen Untersuchungen von Étienne Anheim vermisst man. Natürlich geht es in Avignon auch um die "großen" Namen. Erwähnung finden Petrarca, Richard FitzRalph, Jean de Roquetaillade, Birgitta von Schweden, Katharina von Siena, Jean Gerson und Nicolas de Clamanges. Welchen Stellenwert Predigt im avignonesischen Umfeld zukam, verdeutlicht Havely selbst mit Blick auf FitzRalph. Deshalb vermisst man zumindest einen kursorischen Hinweis auf all die Prediger - bekannter oder unbekannter -, die auf den Kanzeln der Stadt zu lokalen (mitunter auch überregionalen) Berühmtheiten aufsteigen konnten. Die historische Kontextualisierung nimmt breiten Raum ein, der hier - so stellt es sich zumindest für den Rezensenten dar - zu Lasten der eigentlichen "Literaturgeschichte" geht.
Hatte Ernst Robert Curtius in seinem Standardwerk "Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter" von 1948 europäische Kultur auf der Basis von Tropen und figurae zu beschreiben versucht, die ihrerseits im Grund christlicher Latinität wurzelten, gibt vorliegende Geschichte diesen exklusiven Blick auf, weitet und verengt ihn zugleich. Natürlich ist es ganz und gar unstrittig, dass die europäische Literatur vielfältigen Einflüssen ausgesetzt war, deren Ursprung beileibe nicht immer in den europäischen Kernregionen zu suchen ist. Doch geht man hier vielleicht etwas zu weit, wenn die von Curtius so sehr hochgeschätzte, rom-zentrierte Latinität zu einem Element unter vielen herabsinkt, wichtig zwar, gewiss, doch kaum wichtiger als der Einfluss, den griechische, slawische, armenische oder auch arabische Autoren ausübten. Vielleicht sollte man Curtius und die von Wallace herausgegebene Literaturgeschichte als die Tafeln eines Diptychons begreifen: eine vergleichende Lektüre ist auf jeden Fall nützlich.
Ralf Lützelschwab