Rezension über:

Manfred Quentmeier / Martin Stupperich / Rolf Wernstedt (Hgg.): Vertrieben, geflohen - angekommen? Das Thema Flucht und Vertreibung im Geschichts- und Politikunterricht, Schwalbach: Wochenschau-Verlag 2016, 238 S., ISBN 978-3-7344-0351-4, EUR 24,80
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Rezension von:
Theresia Jägers
Didaktik der Gesellschaftswissenschaften, RWTH Aachen
Redaktionelle Betreuung:
Christian Kuchler
Empfohlene Zitierweise:
Theresia Jägers: Rezension von: Manfred Quentmeier / Martin Stupperich / Rolf Wernstedt (Hgg.): Vertrieben, geflohen - angekommen? Das Thema Flucht und Vertreibung im Geschichts- und Politikunterricht, Schwalbach: Wochenschau-Verlag 2016, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 9 [15.09.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/09/29438.html


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Manfred Quentmeier / Martin Stupperich / Rolf Wernstedt (Hgg.): Vertrieben, geflohen - angekommen?

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Vor allem in Schulen und Bildungseinrichtungen spiegelt sich die zunehmende Multikulturalität und Pluralität unserer Gesellschaft wider, wenn mehr als 30,6 Prozent der zehn- bis zwanzigjährigen Kinder und Jugendlichen einen Migrationshintergrund und nicht wenige auch eine Flucht- beziehungsweise Vertreibungsgeschichte aufweisen. [1] Dennoch findet die Thematik bisher nur geringe Resonanz in den curricularen Vorgaben der einzelnen Bundesländer. Dem möchten die Herausgeber Manfred Quentmeier, Martin Stupperich und Rolf Wernstedt entgegenwirken. Sie geben Lehrenden mit dem vorliegenden Sammelband ein Arbeitsmittel an die Hand, das die vielschichtigen Aspekte von Flucht und Vertreibung aus historischer, aus politikwissenschaftlicher und psychologischer sowie aus didaktischer Sicht kontextualisiert und unterrichtspraktische Anregungen bereitstellt (5). Ziel des Buches ist es, dem tief verwurzelten Verständnis, Deutschland sei kein Einwanderungsland, entgegenzuwirken, indem der Themenkomplex (Gewalt-)Migration historisch und politisch verortet und Zuwanderung nicht defizitorientiert, sondern als Chance verstanden wird.

Der Sammelband ist in drei disziplinäre Einheiten untergliedert, denen drei einleitende Aufsätze vorangestellt sind. Hier werden die verschiedenen Dimensionen des komplexen Themenfeldes Flucht und Vertreibung aufgefächert und ein begriffsdefinitorischer Überblick gegeben. Im Anschluss daran erfasst das erste Kapitel die Flüchtlingsthematik aus historischer und zeitgeschichtlicher Perspektive. Eine Essenz aller Beiträge bildet die Erkenntnis, dass die deutsche Geschichte auch und in besonderem Maße eine Migrations- beziehungsweise Flüchtlingsgeschichte ist (74). Dies verdeutlichen Mathias Beer und Edmund Nowak anhand von "(Flüchtlings-)Lagern", die den Alltag der Menschen in der unmittelbaren Nachkriegszeit des Zweiten Weltkrieges in Deutschland und Osteuropa tiefgreifend prägten (59). Ebenso sind Lager auch heute noch Begleiterscheinungen der globalen Fluchtbewegungen, die ihren vorläufigen Höhepunkt in der "Flüchtlingskrise" 2015 fanden (72). Spätestens seit diesem Jahr, so Julian Lehmann, ließe sich die Charakterisierung Deutschlands als Einwanderungsland nicht mehr bestreiten. Die Anerkennung dieser Tatsache besäße große innenpolitische Dringlichkeit, führe doch deren Leugnung immer wieder zu Konflikten, wie beispielsweise in der politischen und gesellschaftlichen Aushandlung des Grundrechtes auf Asyl, wie Patrice G. Poutrus deutlich macht (108).

Vera Hanewinkel, Ibrahim Özkan, Julia Vogel und Rainer Ohliger wenden sich anschließend der Thematik Flucht und Vertreibung aus politikwissenschaftlicher und psychologischer Sicht zu. Neben Hinweisen zur gesundheitlichen Versorgung von Flüchtlingen mit psychotraumatischen Erfahrungen (151-161) werden hier migrationsbedingte Veränderungsprozesse in unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilbereichen thematisiert. So spiegele sich beispielsweise die defizitorientierte Darstellung von Migration und Integration in öffentlichen Diskursen auch in deren Präsentation in Schulbüchern für den Geschichts-, Sozialkunde- und Geographieunterricht wider (170). Migration werde hier als Sonderfall in der Geschichte präsentiert, ohne dabei den Einfluss auf die autochthone Gesellschaft zu thematisieren. Dies suggeriere eine gesellschaftliche Homogenität, die der Realität nicht entspricht (135). Daher plädiert unter anderem Vera Hanewinkel dafür, das Thema Flucht und Vertreibung stärker in Schulen beziehungsweise Bildungseinrichtungen zu implementieren, um den Lernenden Vielfalt als konstitutives, sinnstiftendes Element unserer Gesellschaft zu vermitteln (150). Dies sei beispielsweise möglich, wenn der Weltflüchtlingstag am 20. Juni als erinnerungskultureller Gedenktag in den internen Schulkalender übernommen werden würde (162), wie Rainer Ohliger vorschlägt. Mit unterrichtspraktischen Hinweisen greift dieser Aufsatz schon dem folgenden Kapitel vor, das Flucht und Vertreibung als Gegenstände von Fachdidaktik und Unterricht thematisiert.

Michele Barricelli und Dirk Lange machen in ihrem Beitrag deutlich, dass die interkulturelle respektive migrationspolitische Bildung, wie sie unter anderem schon in der im Dezember 2013 neugefassten Empfehlung "Interkulturelle Bildung und Erziehung in der Schule" der Kultusministerkonferenz der Länder für alle Fächer gefordert wird, nur sehr langsam im Geschichts- und Politikunterricht etabliert werde (179). [2] Um das Thema Migration in den Geschichtsunterricht einzubinden, bietet vor allem die Längsschnittorientierung besonderes Lernpotenzial, so Michele Barricelli: Hier seien Inhalte wie Ein- und Auswanderung oder Zwangsmigration denkbar, deren Entwicklungen über die Jahrhunderte hinweg betrachtet werden können (185). Geschichtslehrwerke stellen hierfür bereits eine große Bandbreite an Materialien zur Verfügung, mit denen unterschiedliche Aspekte von Flucht und Vertreibung sowie Migration und Integration im Unterricht der Sekundarstufe II erarbeitet werden können, wie Martin Stupperich exemplarisch herausarbeitet (189-207). Für den Politikunterricht ist besonders die curriculare Einbindung der Thematik innerhalb der Menschenrechtsbildung vielversprechend, die Manfred Quentmeier in seinem Aufsatz deutlich macht (209).

Der Sammelband vereint eine Reihe disziplinär sehr heterogener Aufsätze miteinander, die teilweise zu einer inhaltlichen Redundanz im Band führen und deren Zuordnung zu einer der drei Sinneinheiten an einigen Stellen schwer nachvollziehbar ist. Obwohl der Band einen roten Faden vermissen lässt, verdeutlicht das breite Themenspektrum dennoch eindrücklich die Komplexität von Flucht und Vertreibung als Lerngegenstand. Die Aufbereitung der Materie für den schulischen und außerschulischen Kontext muss daher von einer fundierten fachdidaktischen Diskussion begleitet werden, für die der vorliegende Band eine wichtige Grundlage bildet.


Anmerkungen:

[1] Statistisches Bundesamt: Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Bevölkerung mit Migrationshintergrund - Ergebnisse des Mikrozensus 2015 (= Fachserie 1 Reihe 2.2), S. 37, https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/Bevoelkerung/MigrationIntegration/Migrationshintergrund2010220157004.pdf?__blob=publicationFile (zuletzt aufgerufen am 08.07.2017).

[2] Ständige Kultusministerkonferenz der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (Hg.): Interkulturelle Bildung und Erziehung in der Schule (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 25.10.1996 i. d. F. vom 05.12.2013).

Theresia Jägers