Jörg Rogge (ed.): Recounting Deviance. Forms and Practices of Presenting Divergent Behaviour in the Late Middle Ages and Early Modern Period (= Mainz Historical Cultural Sciences; Vol. 34), Bielefeld: transcript 2016, 208 S., ISBN 978-3-8376-3588-1, EUR 29,99
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Jörg Rogge: Herrschaftsweitergabe, Konfliktregelung und Familienorganisation im fürstlichen Hochadel. Das Beispiel der Wettiner von der Mitte des 13. bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts, Stuttgart: Anton Hiersemann 2002
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Auf einer Tagung am Centro Tedesco di Studi Veneziani im Februar 2015 wurde das hochspannende Thema der Devianz im Mittelalter in den Mittelpunkt gestellt, womit global zu verstehen sein sollte die Abweichung von sozialen, theologischen oder politischen Normen. Solch ein Ansatz verdient gerade deswegen unsere Aufmerksamkeit, weil hierbei deutlich vor Augen geführt wird, wie wenig unsere traditionellen Ansichten einer alles dominierenden Kirche wirklich zutreffen, wie heterogen die mittelalterliche und frühneuzeitliche Gesellschaft wirklich gewesen ist und welche Anstrengungen seitens der weltlichen und kirchlichen Autoritäten unternommen wurden, um juristische und religiöse Ordnung zu schaffen, was auch immer darunter zu verstehen sein mag. Schon der erste Blick auf die Fülle mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Dokumente bestätigt, wie vielschichtig und komplex die damalige Welt gewesen ist, in der vielfältig unterschiedliche Kräfte um Anerkennung, Herrschaft oder Dominanz rangen. Treffende Beispiele, die hier leider praktisch gar nicht berücksichtigt werden, waren etwa Mystiker/innen, Beginen/Begarden, Anchorit/innen, dann aber auch Asoziale wie Räuber, Obdachlose, Straßenkünstler etc.
Wie jedoch der Herausgeber Jörg Rogge betont, ging es bei der Tagung mehr darum, den offiziellen Verhaltenskodex in den Blick zu nehmen, denn vielfach kam es zu Anklagen, Verdächtigungen oder Beschuldigungen gegen Individuen, die ein abweichendes Verhalten an den Tag legten oder einfach verdächtigt wurden, sich nicht systemkonform zu verhalten. Darunter ist aber insbesondere das Interesse der Autoritäten oder der Mehrheitsvertreter an einer genauen Identifizierung der Abweichler zu verstehen, denn Norm und Abweichung entstehen jeweils durch externe Festlegungen oder Bezeichnungen: "labelling behaviour" (14). Wie aber dieser Prozess verlief, mittels Gerüchten, öffentlicher Kritik und schließlich Kriminalisierung die sich anders verhaltende Person zu identifizieren, anzuklagen und notfalls aus der Gesellschaft auszuschließen, wenn nicht gar zu eliminieren, ist keineswegs einfach nachzuvollziehen, wie auch die vielen Fälle anzeigen, die von den einzelnen Autoren in ihren Beiträgen angesprochen werden. Generell trifft aber sicherlich zu, dass Abweichung als solche meistens dadurch zum Ausdruck kam, dass jemand den Vorwurf erhob, eine Transgression sei vorgekommen (Hexe, Teufelsbund, Prophezeiung, Blasphemie etc.), die eventuell den Zusammenhalt der Gesellschaft gefährden könnte. Wirkliche Abweichung drückte sich also eigentlich nicht so sehr durch das Verhalten einer Person aus, sondern durch die bewusste Bezeichnung bzw. Beschuldigung, ein bestimmtes Benehmen entspreche nicht der Norm oder den Vorschriften. Ob wir aber in diesem Zusammenhang, wie der Herausgeber argumentiert, mit der Vorstellung einer europäischen 'Streitkultur' (16) wesentliche Erkenntnisse gewinnen können, sei dahingestellt.
Die hier versammelten Beiträge bieten sehr unterschiedliche Fälle von vermeintlichem oder real abweichendem Verhalten auf der Grundlage chronikaler Belege, die von den einzelnen Autoren kritisch diskutiert werden. Regina Schäfer beschäftigt sich mit einem Fall in den Prozessakten von Ingelheim, während Judith Mengler die Crowland Chronicles auf deviante Verhaltensbeispiele hin durchsucht. Tatsächliche Devianz kommt aber erst in dem Aufsatz von Monika Frohnapfel-Leis zum Ausdruck, in dem sie juristische Fälle in der spanischen Inquisition auswählt und untersucht, einer Institution, die explizit dafür geschaffen worden war, religiöse Abweichungen zu verfolgen und durch einen peinlichen Prozess zu verhindern. Ob Blasphemie tatsächlich unter die Kategorie von Abweichung fällt, wie Luca Vettore angesichts von venezianischen Beispielen des 17. Jahrhunderts argumentiert, scheint mir etwas an den Haaren herbeigezogen. Viel triftiger waren dagegen die Anklagen wegen Hexerei in venezianischen Urkunden aus der gleichen Zeit, die von Giulia Morosini behandelt werden, die zugleich Fälle von "love deviances" heranzieht, ohne dass dieser Begriff recht verständlich würde (sprachlich auch unzulänglich). Gemeint ist aber der Einsatz von Liebeszauber, d. h. 'love magic', was zwar deviant wirkte, aber so weit verbreitet war, dass sich die Frage ergibt, ab wann ein gewisses Verhalten tatsächlich noch als Abweichung anzusehen ist. Besonders wertvoll sind die hier zitierten Fälle, weil direkt aus italienischen Quellen geschöpft. Dem schließt sich Federico Barberato an, der weiter in inquisitorische Urkunden vorstößt und Anklagen gegen Frauen (aber auch Männer) in Venedig während des 17. und 18. Jahrhunderts behandelt, die sich gegen grundsätzliche Lehren der Kirche oder auch gegen Moralvorstellungen stellten (freier Sex). Sebastian Becker beschließt den Band mit einer Arbeit über englische Reisende der Frühneuzeit, die im Ausland durch ihre Unkenntnis der örtlichen Verhältnisse und Kultur deutlich als Außenseiter auffielen und öfters dadurch in Schwierigkeiten gerieten.
Eine Reihe von internen Problemen schwächt leider diesen auf Anhieb zunächst hoch interessanten Band. Die Einleitung schneidet zwar das wesentliche Arbeitsfeld an, geht aber nicht weit genug, die theoretischen und praktischen Aspekte genauer zu durchleuchten. Wie oben schon angedeutet, war die Welt des Mittelalters und der Frühneuzeit erheblich devianter, als wir es uns bisher vorgestellt haben mögen, wovon aber dieser Band letztlich nur ein wenig zu berichten vermag. Die Rolle der Inquisition gewinnt zu großes Gewicht, so als ob Abweichungen nur dann zu beobachten gewesen wären, wenn sie kirchliche Regeln u.a. betrafen. Viele inquisitorische Fälle kommen zur Sprache, werden aber nicht erschöpfend verfolgt. Die juristisch orientierten Studien von Schäfer und Mengler tragen praktisch gar nichts zu dem übergeordneten Thema bei, denn jeder Straffall wurde überhaupt nur aufgezeichnet, weil es sich um eine Abweichung von den Gesetzen handelte. Dies ist insgesamt also etwas nichtssagend. Die Diskussion einer angeblichen Hexe, einer Heiligen bzw. einer Prophetin im frühneuzeitlichen Spanien (Frohnapfel-Leis) schneidet zwar die zentralen Punkte an, geht aber niemals gründlich genug mit dem Sujet um. Die anderen Studien lohnen zwar der Lektüre, aber sie sind einerseits noch viel zu oberflächlich, andererseits behandeln sie zu viele unterschiedliche Fälle, ohne die theoretischen oder kultur-historischen Bedingungen solide genug in den Griff zu bekommen.
Auch wenn einige Aufsätze recht umfangreich gestaltet worden sind, reflektieren alle doch immer noch die mündliche Fassung auf der Tagung. Keiner der Autoren ist englischer Muttersprachler, was sich überall am Sprachstand bemerkbar macht, der systematisch und umfassend hätte überarbeitet werden müssen. Nur der Herausgeber bemüht sich, was durchaus verdienstvoll ist, die theoretischen Grundlagen des Phänomens 'Abweichung' zu reflektieren, während die Autoren relativ naiv an ihr Thema herangehen. Sie beschäftigen sich meistens bloß kurz mit den ihnen vorliegenden Fällen, verfolgen sie aber dann öfters gar nicht in ganzer Breite, womit vieles in der Luft zu hängen bleiben droht.
Insgesamt aber freut man sich, dass überhaupt solche prinzipiellen Fragestellungen entwickelt wurden, die das bisherige Bild einer durch und durch homogenen Gesellschaft im Mittelalter und in der Frühneuzeit deutlich unterminieren. Leider bleibt es bei einem sehr facettenartigen Eindruck, der nicht so recht Boden unter den Füßen gewinnt und bloß anregend wirkt und zu weiteren Forschungen auf diesem Gebiet anregt. Keiner der Autor/innen bezieht sich auf die anderen Beiträge; es bleibt bei einem Stückwerk, das zwar individuell von Interesse ist, insgesamt aber noch sehr viel Arbeit übriglässt. Immerhin kommen viele in Quellen belegte Fälle zur Sprache, worauf man später gerne zurückgreifen wird, aber es fehlt ein Register. Immerhin erscheint am Ende ein Verzeichnis der Beiträger.
Albrecht Classen