Albrecht Ritschl (Hg.): Das Reichswirtschaftsministerium in der NS-Zeit. Wirtschaftsordnung und Verbrechenskomplex (= Wirtschaftspolitik in Deutschland 1917-1990; Bd. 2), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2016, XII + 734 S.
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Albrecht Ritschl / Wilhelm Herrmann: Briefwechsel 1875 - 1889. Herausgegeben von Christophe Chalamet, Peter Fischer-Appelt u. Joachim Weinhardt in Zusammenarbeit mit Theodor Mahlmann, Tübingen: Mohr Siebeck 2013
Albrecht Ritschl: Deutschlands Krise und Konjunktur 1924-1934. Binnenkonjunktur, Auslandsverschuldung und Reparationsproblem zwischen Dawes-Plan und Transfersperre, Berlin: Akademie Verlag 2002
So wie vor einigen Jahren bei Industrieunternehmen und Großbanken, gehört es heute auch für die Bundesministerien zum guten Ton - und häufig sogar zum Selbstverständnis -, sich der eigenen Vergangenheit zu stellen und unabhängige Historikerkommissionen mit der Aufarbeitung der Hausgeschichte zu beauftragen. Nach der wegweisenden, aber nicht unumstrittenen Studie über das Auswärtige Amt [1] und der erfolgreichen Untersuchung des Justizministeriums [2] hat nun auch das Bundesministerium für Energie und Wirtschaft eine eigene - gewichtige - Untersuchung in vier Bänden vorgestellt. Der dritte Band, für den Albrecht Ritschl als Herausgeber zeichnet, widmet sich unter dem Untertitel "Wirtschaftsordnung und Verbrechenskomplex" der Zeit des Nationalsozialismus.
Im Sinne einer asymmetrischen Versuchsanordnung versammelt der Band die Beiträge ausgewiesener Spezialisten, die zentrale Felder der Wirtschaftsordnung und Verbrechenskomplexe analysieren, ohne dabei freilich den Anspruch der Vollständigkeit zu erheben.
Stefan Fisch eröffnet den Reigen mit einer gekonnten Analyse der Personal- und Organisationsstruktur des Reichswirtschaftsministeriums (RWM). Am Beispiel von Hans Hartenstein, in dessen Verantwortungsbereich das Haavara Abkommen fiel, das die Auswanderung von Juden nach Palästina teils erst ermöglichte, zeigt Fisch eindringlich die sich ergebenden Handlungsspielräume auf. Sehr spannend ist das Faksimile eines Briefes mit der Anordnung der Vernichtung der "Entjudungsakten" vom 16. Februar 1945, der einen Gutteil der heutigen Quellenprobleme der Erforschung der Vernichtung der jüdischen Gewerbetätigkeit erklärt. Bemerkenswert - wenn auch nicht weiter kontextualisiert -, dass ein Teil des RWM laut Absender zu diesem Zeitpunkt in der (nie bezogenen) Zentrale des Karstadt-Konzerns ansässig war. Auf der Grundlage seiner vielbeachteten Biografie untersucht Christopher Kopper den Einfluss des Reichsbankpräsidenten und "Wechselreiters" Hjalmar Schacht auf das RWM. Er kommt zu dem Schluss, dass das Ministerium die Initiative an zentralen Brennpunkten der Wirtschaftspolitik verloren hatte und - wie von den Mitarbeitern seinerzeit befürchtet - ein Stück weit zur Filiale der Reichsbank geworden sei. Etwas unvermittelt diskutiert Kopper sodann das Energiewirtschafts- und das Aktiengesetz - nicht jedoch das Kreditwesengesetz. In seinem konzisen Beitrag über die "wirtschaftspolitische Achillesferse des Dritten Reichs" arbeitet Ralf Banken die Kontinuitätslinien der Devisenbewirtschaftung heraus und betont, dass diese zu einem deutlichen Kompetenzzuwachs des RWM führte. Banken vermerkt, dass Kurt Schmitt trotz der Devisenkrise seine Ämter ruhen ließ, während Kopper zuvor noch argumentiert hatte, dass der kurzeitige Wirtschaftsminister dies aufgrund der Krise tat. Fast en passant erwähnt Banken aber auch, dass die Reichsbank in den frühen 1930er-Jahren geheime Devisenbestände in beachtlicher Höhe angelegt hatte. Auf der Hand liegend hingegen ist der Zusammenhang zwischen Planung und Statistik, wie Rainer Fremdling in seinem klaren Beitrag über Statistik als Mobilisierungsfaktor betont. Stellvertretend für die in ganz Europa besetzten Länder, analysiert Marcel Boldorf die Wirtschaftsabteilung des Militärbefehlshabers in Frankreich und nutzt seinen Beitrag zu einer feinen Kritik der allzu leichtfüßig herbeizitierten Polykratie-Behauptung. Jochen Streb dekonstruiert in seinem Beitrag den Mythos des von Albert Speer generierten Rüstungswunders und betont die Bedeutung des RWM für die Kriegsführung. Ingo Loose stellt ausführlich die Rolle des Reichswirtschaftsministeriums im Prozess der Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz der Juden dar. Da ich das Manuskript dieses Beitrags vor der Drucklegung kommentiert habe, muss ich mich hier im Sinne wissenschaftlicher Redlichkeit weiterer Ausführungen enthalten. Etwas befangen bin ich auch, den Beitrag meines akademischen Lehrers Ludolf Herbst zu würdigen. Auf der Grundlage einer Analyse des chronischen Handelsbilanzdefizits bemisst dieser den "systemischen Fußabdruck" des NS und betont, dass der Vierteljahresplan zwar eine Notlösung war, aber eben Fakten schuf, Handlungsoptionen einschränkte und durch sein Scheitern den Krieg mit herbeiführte. Die sich überlagernden bürokratischen Strukturen der Wirtschaftsverwaltung - hybride Organisationsformen, die wir heute als private-public-partnership bezeichnen würden - eröffneten, so Herbst, Schnittstellen zur Reaktion auf die sich verändernden Gegebenheiten. Hieran anschließend - und im Vergleich mit dem New Deal - hinterfragt Albrecht Ritschl die langfristige Wirkung des NS-Wirtschaftssystems auch als Grundlage für das westdeutsche "Wirtschaftswunder". Gleichzeitig schätzt er das Vermögen der Juden, setzt es in Beziehung zum Gesamtvermögen und gewinnt daraus die wichtige Erkenntnis, dass ökonomische Motive nicht die alleinige Triebfeder des Judenmords gewesen sein können.
Der Band vereint einige solcher wichtigen Erkenntnisse, entfaltet ein Kaleidoskop innovativer Ideen und Forschungsergebnisse und leistet so einen wichtigen Beitrag zur Wirtschaftsgeschichte des NS. Hierzu trägt auch bei, dass die Autoren ganz offenbar keinem Diktat des Herausgebers unterworfen wurden und teils abweichende Meinungen vertreten können. Als zentrales zeitgenössisches Problemfeld wird so das Außenhandelsdefizit in fünf Beiträgen teils völlig unterschiedlich bewertet. Mit Blick auf die Mitarbeiter des Ministeriums wie auch die interessierte Öffentlichkeit ist dabei allerdings kritisch anzumerken, dass die Studie sich damit dann weniger an die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Ministeriums als an ein Fachpublikum wendet. Wenig erfahren die Leser über den "Markenkern", das Reichswirtschaftsministerium als Behörde. Die konziseste Aufstellung von Strukturen findet sich notabene in einer Fußnote des Beitrags von Jochen Streb. Dabei wies die "Dame ohne Unterleib" (Willi Boelcke) so manche Eigenart auf, deren Analyse gelohnt hätte. Das junge Ministerium lag bekanntlich nicht im eigentlichen Zentrum der Macht - der Wilhelmstrasse-, verschliss innerhalb von 12 Jahren immerhin fünf Minister und war so das Ministerium mit den häufigsten Wechseln auf der höchsten Leitungsebene im NS. Auch die Beziehungen des RWM zu den zu Gauwirtschaftskammern mutierenden Industrie- und Handelskammern wird allenfalls am Rande gestreift.
Es bleibt zu hoffen, dass die Geschichte des Reichswirtschaftsministeriums als ein Baustein einer Gesamtanalyse der Verwaltungs-, Personal- und Netzwerkstrukturen der Wilhelmstraße im Nationalsozialismus genutzt werden wird, die noch immer ein Desiderat der Forschung sind.
Anmerkungen:
[1] Eckart Conze / Norbert Frei / Peter Hayes / Moshe Zimmermann (Hgg.): Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, München 2010.
[2] Manfred Görtemaker / Christoph Safferling: Die Akte Rosenburg. Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Zeit, München 2016.
Christoph Kreutzmüller