Carl-Ludwig Holtfrerich (Hg.): Das Reichswirtschaftsministerium der Weimarer Republik und seine Vorläufer. Strukturen, Akteure, Handlungsfelder (= Wirtschaftspolitik in Deutschland 1917-1990; Bd. 1), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2016, XII + 755 S.
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Seit das Auswärtige Amt als erstes Bundesministerium 2005 eine Unabhängige Geschichtskommission mit der Erforschung seiner Vergangenheit in der NS-Zeit beauftragte und die Ergebnisse 2010 in einem vieldiskutierten Band der Öffentlichkeit präsentierte, sind mehrere Ministerien seinem Beispiel gefolgt. [1] Besonders umfangreiche Mittel stellte das Bundeswirtschaftsministerium zur Verfügung und ermöglichte, nicht nur die Entwicklung seines Vorgängers im "Dritten Reich" zu erörtern, sondern in vier Bänden die Gesamtgeschichte der wirtschaftlichen Zentralbehörden von den Anfängen bis zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten 1990 darzustellen. Auch das Untersuchungsfeld ist weit gesteckt: Es reicht über die Geschichte der Institution und ihres Personals weit hinaus und umfasst auch das Handeln und die Konzeptionen des Wirtschaftsministeriums. Das Werk wird auf diese Weise zu einer Geschichte der deutschen Wirtschaftspolitik im 20. Jahrhundert.
Carl-Ludwig Holtfrerich hat in dem von ihm verantworteten Band über die Weimarer Republik durchweg namhafte, durch einschlägige Forschungen ausgewiesene Wissenschaftler und eine solche Wissenschaftlerin für die Bearbeitung gewonnen. Im Vertrauen auf ihre Erfahrung hat er seine lenkende Funktion als Herausgeber sehr zurückhaltend wahrgenommen. Infolgedessen bieten die einzelnen Beiträge, die überwiegend auf intensiver Archivarbeit beruhen, viele neue Erkenntnisse; aber sie sind nicht aufeinander bezogen. Z.B. endet die Untersuchung über das Personal des Ministeriums ohne Fortsetzung 1923, ebenso eine Tabelle mit den Daten der Minister und Staatssekretäre. Eine vollständige Übersicht im Anhang des Bandes wäre nützlich gewesen.
Die Errichtung des Reichswirtschaftsamts im Krisen- und Epochenjahr 1917 war bezeichnend. Die liberale Doktrin, dass sich der Staat aus der Wirtschaft heraushalten solle, war im ersten die gesamte Gesellschaft erfassenden Krieg schnell unhaltbar geworden. An vielen Stellen hatte der Staat lenkend eingreifen müssen. Er wurde infolgedessen weit stärker als früher für das Wohlergehen seiner Bürger und Bürgerinnen und das Gedeihen der Wirtschaft verantwortlich gemacht, und diese Entwicklung war nach dem Krieg nicht mehr rückgängig zu machen. Der wirtschaftlichen Zentralbehörde, die ihre Entstehung ursprünglich machtpolitischer Taktik verdankte, wie Stefan Fisch minutiös nachgezeichnet hat, wuchs dadurch eine Schlüsselfunktion zu. Aber sie musste ihre Kompetenzen von Anfang an und bis zum Ende der Weimarer Republik ständig gegen andere Ämter erkämpfen und verteidigen: die Reichskanzlei, Reichsministerien, preußische Ministerien, Militärämter, später auch die Reichsbank. Dieses Thema kehrt im ganzen Band immer wieder.
Während Fisch sich auf die ersten beiden Staatssekretäre konzentriert, untersucht Heidrun Homburg in ihrem interessanten Beitrag über die Jahre 1917-1923 das gesamte Personal des Reichswirtschaftsministeriums (RWM). Als einzige Autorin behandelt sie die dort tätigen Frauen und beschreibt sowohl den Arbeitsalltag der einfachen Schreibkräfte als auch die auffallend starke Beteiligung von qualifizierten Frauen an der Referatsleitung. Allerdings wurde keine dieser sieben Frauen in eine Planstelle eingewiesen; insofern blieb das RWM traditionellen Rollenmustern verhaftet. Eine von ihnen, Dr. Cora Berliner, entwickelte schon 1921 einen Plan, durch die Heranziehung der Sachwerte der Industrie Reparationszahlungen und Inflationsbekämpfung zu ermöglichen; er wurde von einflussreichen Unternehmern und ihnen nahe stehenden Politikern verhindert (Rathenau, Stinnes u.a.). Eine zweite bemerkenswerte Gruppe unter den leitenden Beamten des RWM waren linksbürgerliche, republikfreundliche, für neue wirtschaftliche und soziale Ideen aufgeschlossene Intellektuelle der "Frontkämpfergeneration". In den Wirtschaftskrisen der Weimarer Republik zeichneten sie sich immer wieder durch ihre Offenheit für innovative Lösungsvorschläge aus, wie mehrere Beiträge zeigen. Unter ihnen waren relativ viele Juden und Jüdinnen. Das wirft die Frage auf: Konnten Außenseiter: Frauen und jüdische Experten, eher in dem jungen, als weniger attraktiv geltenden RWM als in einem der klassischen Ministerien unterkommen?
Homburg gelangt zu einer neuen Beurteilung des Reichswirtschaftsministers Robert Schmidt. Der Gewerkschaftsführer, dem das Etikett "orthodoxer Marxist" anhaftete, erwies sich als ein kluger Pragmatiker, der zusammen mit seinem fortschrittlich-bürgerlichen Staatssekretär Julius Hirsch eine hervorragende Personalpolitik betrieb. Da die Minister häufig wechselten, verbürgten die Staatssekretäre Kontinuität, nach Hirsch insbesondere von 1923 bis 1932 Ernst Trendelenburg, der eine zusammenfassende Würdigung verdient hätte. Dabei könnte die Frage nach der relativen Bedeutung von politischer Leitung und bürokratischer Praxis in der Arbeit des Ministeriums grundsätzlich erörtert werden.
Die Tätigkeit des RWMs wird in exemplarischer Konzentration auf die wichtigsten Aufgabenfelder dargestellt. Nachdem Holtfrerich schon 1980 das Standardwerk über die Große Inflation aus makroökonomischer Perspektive vorgelegt hat [2], kann er aufgrund der inzwischen zugänglichen Akten nun die internen Entscheidungsprozesse darstellen und zeigen, dass die Ursachen und Zusammenhänge der Inflation im RWM früh durchschaut wurden. Es setzte zunächst währungspolitische Instrumente und dirigistische Außenhandelskontrollen bewusst ein, um den Wiederaufbau und die Wiedereingliederung der deutschen Wirtschaft in die Weltwirtschaft zu erleichtern, und legte dann rechtzeitig, bevor die Hyperinflation Deutschland ins Chaos stürzte, praktikable Pläne für die Stabilisierung der Mark vor. Es scheiterte - wie erneut am Ende der Weimarer Republik - am nationalpolitisch motivierten, auf die Reparationslast fixierten Widerstand der Reichsbank.
Auch die scheinbar rein technische Arbeit der mit Statistik betrauten Dienststellen und Unterbehörden des RWMs, des Statistischen Reichsamts und des Instituts für Konjunkturforschung, war stark von politischen Interessen mitbestimmt, wie Adam Tooze in seinem spannenden Beitrag zeigt. Die Ermittlung der "Teuerungsraten" und des "Goldwerts" der Reparationsleistungen hatte innen- und außenpolitisch große Auswirkungen, und die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen konnten sich nur schwer dem Anspruch entziehen, die "richtigen" Zahlen zu liefern. Tooze deutet auch den Wagemann-Plan neu als ein Konzept zur Bankensanierung; ob das haltbar ist, muss die weitere Forschung erweisen.
Hartmut Berghoff, Ingo Köhler und Harald Wixforth betreten mit ihrer Untersuchung über die binnenwirtschaftlichen Bestrebungen des Ministeriums Neuland. Sehr klar tritt die Machtverschiebung von den Konsumenten zu den Produzenten zutage, die sich in der Weimarer Republik generell beobachten lässt. In der Inflationszeit versuchte das RWM mit rigiden Maßnahmen zur Preiskontrolle, die Konsumenten zu schützen, wodurch es sich den erbitterten Protest des gewerblichen Mittelstands zuzog. Sein umfassendes, tendenziell antidemokratisches Schutzverlangen, das von der älteren Forschung anhand von Verbandspublikationen ermittelt wurde, wird in den Ministeriumsakten eindrucksvoll bestätigt. In der Folgezeit räumte das RWM den mittelständischen Lobbyisten einen ähnlichen Einfluss ein wie denen der Großunternehmer. Seine wichtigsten ordnungspolitischen Projekte, die Novellierung der Handwerksordnung, der handwerklichen Berufsausbildung und des Kartellrechts, blieben im Dickicht der widersprüchlichen organisierten Interessen hängen.
Im korrespondierenden Kapitel über die Außenwirtschaftspolitik richtet Harold James den Blick vor allem auf die Reparationsproblematik. Andere wichtige Themen wie die Handelsvertragspolitik und die Ausfuhrförderung durch das neue Instrument der "Hermes-Bürgschaften" kommen nur kurz zur Sprache. In den staatlichen Kreditgarantien sieht James ein spätes Ergebnis der gegen Ende des Krieges entwickelten Gemeinwirtschaftsideen. Hinsichtlich der Reparationen folgt er Albrecht Ritschl, der in dem Band seine stringente Argumentation von 2002 zusammenfasst. [3] Danach zerstörte der Young-Plan durch die Gleichstellung von Reparationsschulden und kommerziellen Schulden die internationale Kreditwürdigkeit Deutschlands, und deshalb gab es zu der harten Spar- und Deflationspolitik der Regierung Brüning trotz ihrer Aussichtslosigkeit und trotz der verheerenden Folgen für den Sozialstaat und die Akzeptanz der Weimarer Demokratie keine Alternative. Zugespitzt läuft das auf die zeitgenössische Deutung hinaus, dass der Versailler Vertrag und die Reparationen an Hitler schuld waren.
Dieser fatalistischen Ansicht widersprechen die zahlreichen Alternativprogramme, die seit dem Herbst 1931 entwickelt wurden, darunter die Denkschriften des leitenden Beamten im RWM, Wilhelm Lautenbach, und der Wagemann-Plan des Direktors des Instituts für Konjunkturforschung. Mit ihnen befasst sich Carl-Ludwig Holtfrerich in seinem abschließenden Beitrag. Er sieht mehr Handlungsspielraum für Brüning als James und Ritschl.
Auch nach dem Erscheinen des voluminösen Werks gibt es weiter wissenschaftliche Kontoversen. Aber es erweitert die Kenntnis über die Wirtschaftspolitik in der Weimarer Republik erheblich, oder es bestätigt anhand der Akten, was die ältere Forschung aus veröffentlichten Quellen nur erschließen konnte. Die Darstellung verzichtet durchweg auf hermetische Fachterminologie, komplizierte Berechnungen, Zahlenreihen und Grafiken und kann deshalb ein allgemeines Publikum erreichen. Für die Weimarer Republik war die Wirtschaftsgeschichte von schicksalhafter Bedeutung. Vielleicht vermag dieser Band über das Reichswirtschaftsministerium ein neues Interesse dafür zu wecken.
Anmerkungen:
[1] Christian Mentel / Niels Weise: Die zentralen deutschen Behörden und der Nationalsozialismus. Stand und Perspektiven der Forschung, hgg. v. Frank Bösch / Martin Sabrow / Andreas Wirsching, München / Potsdam 2016; Eckart Conze / Norbert Frei: Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, München 2010.
2] Carl-Ludwig Holtfrerich: Die deutsche Inflation 1914-1923. Ursachen und Folgen in internationaler Perspektive, Berlin 1980.
[3] Albrecht Ritschl: Deutschlands Krise und Konjunktur 1924-1934. Binnenkonjunktur, Auslandsverschuldung und Reparationsproblem zwischen Dawesplan und Transfersperre, Berlin 2002.
Ursula Büttner