Maximilian Becker: Mitstreiter im Volkstumskampf. Deutsche Justiz in den eingegliederten Ostgebieten 1939-1945 (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte; Bd. 101), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2014, VIII + 343 S., ISBN 978-3-486-77837-3, EUR 44,95
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Die Tätigkeit deutscher Justiz und deutscher Juristen in Osteuropa im Zweiten Weltkrieg geriet seit dem Erscheinen diverser "Braunbücher" osteuropäischer Provenienz 1957-1965 und der kritischen Beschäftigung mit der NS-Justiz nach 1968 immer wieder ins Blickfeld von historischen Arbeiten. Oft mangelte es aber bei solchen verdienstvollen Impulsen einzelner Autoren [1] und in neuerer Zeit auch die Justiz kritisch hinterfragender Publikationsorgane (etwa der Reihe Juristische Zeitgeschichte in Nordrhein-Westfalen) an der nötigen Kenntnis osteuropäischer Sprachen und Realien. Polnische Arbeiten [2] stützen sich dagegen auf einzelne, in polnischen Staatsarchiven liegende Bestände vor allem der Sondergerichte, ziehen aber die deutsche zentrale Überlieferung nur unzureichend heran. Nachzufragen ist deshalb, in welchen Bereichen die Münchner Dissertation von Maximilian Becker diese Situation verbessern kann.
Becker bearbeitet in seiner Studie, die sich auf die deutsche und polnische Forschungsliteratur sowie einen ausgewählten Bestand an Archivalien stützt, die gesamten ins Deutsche Reich eingegliederten Ostgebiete (Regierungsbezirk Zichenau, Danzig-Westpreußen, Reichsgau Wartheland und Ostoberschlesien) mit fast 10 Millionen Einwohnern. Ihm sind die erheblichen regionalen Unterschiede in der deutschen Besatzungspolitik bewusst, er strebt eine "Überblicksdarstellung" an und formuliert, die Studie liefe "Gefahr, sich zu verzetteln und sich dem Vorwurf auszusetzen, den Gegenstand nicht tief genug zu durchdringen" (13). Ziel der Arbeit sei es, die Rechts- und Justizgeschichte stärker in die allgemeine Besatzungsgeschichte zu integrieren.
Die in zehn Kapitel gegliederte Studie behandelt nacheinander den Besatzungskontext und die Organisation der Annexionsjustiz, beschreibt die Personalpolitik und erstellt ein Gruppenprofil der Richter und Staatsanwälte, geht dann auch auf die - wie der Autor zutreffend beschreibt: unterforschte - Zivilgerichtsbarkeit ein, analysiert die Kooperation und die Konflikte zwischen Polizei und Justiz, die Strafverfolgungspraxis, den Strafvollzug sowie schließlich in eher summarischen Kapiteln Evakuierung, Nachkriegskarrieren und zieht (wenig tiefschürfend) einen Vergleich zwischen nationalsozialistischer und sowjetischer Justiz in Ostpolen. Bereits diese Auflistung macht deutlich: Es handelt sich um eine Überblicksdarstellung auf erheblichem Abstraktionsniveau, die es kaum ermöglicht, Fallbeispiele aufzunehmen oder Schwerpunkte zu setzen.
Das von Becker herangezogene Material stammt mehrheitlich aus dem mit Abstand bevölkerungsreichsten und auch archivalisch am besten überlieferten Reichsgau Wartheland: Der Autor kann hier zeigen, dass die wartheländische Justiz, einschließlich der Sondergerichte in Posen, Litzmannstadt (Łódź), Hohensalza (Inowrocław), Leslau (Włocławek) und Kalisch sowie der Zivilgerichte, nicht schärfer verfuhr als die Gerichtsbarkeit in anderen eingegliederten Gebieten. Dieser bemerkenswerte und auch empirisch abgesicherte Befund widerspricht verbreiteten Vorstellungen vom Warthegau als einem "besonderen Exerzierfeld" nationalsozialistischer Politik. Becker betont nüchtern die grundsätzlich diskriminierende und brutale NS-Justizpraxis, rückt die zentrale Rolle der Berliner Stellen ins Zentrum und schildert die Implementierung in der Region.
Positiv hervorzuheben ist, dass die Darstellung durchweg fehlerfrei ist und sowohl die NS-Justizgliederung als auch die betroffenen Bevölkerungen angemessen erfasst. Die Ausblendungen gehen aus dem Charakter der abstrahierenden Überblicksdarstellung hervor: Es fehlt eine lebensweltliche Darstellung der Rolle der NS-Justiz vor Ort, Beziehungen zwischen Tätern und Opfern bleiben abstrakt, Alltags-, Lokal- oder Fallstudien tauchen nicht auf. Das Dilemma einer juristischen Zeitgeschichte, die zu wenig auch sozial- und kulturwissenschaftlich arbeitet, liegt auf der Hand.
Insgesamt liefert die Studie eine nützliche und willkommene Überblicksdarstellung für die NS-Justiz in den eingegliederten west- und nordpolnischen Gebieten, die eine Basis für zukünftige Arbeiten bilden kann. Sie muss aber durch Lokal-, Alltags- und Fallstudien vertieft werden, wobei hier deutsch-polnische Gemeinschaftsprojekte angesiedelt werden sollten. Angesichts von mehr als 5000 Todesurteilen durch die Gerichte sowie zehntausenden weiterer Prozessakten, die weitgehend unbearbeitet und unbenutzt in polnischen Archiven liegen und vielfach nur unzureichend erschlossen sind, besteht hier ein breites Feld für eine moderne, kooperative Forschung.
Anmerkungen:
[1] Diemut Majer: "Fremdvölkische" im Dritten Reich. Ein Beitrag zur nationalsozialistischen Rechtssetzung und Rechtspraxis in Verwaltung und Justiz unter besonderer Berücksichtigung der eingegliederten Ostgebiete und des Generalgouvernements, Boppard am Rhein 1981; Christoph Schminck-Gustavus: Das Heimweh des Walerjan Wróbel. Ein Sondergerichtsverfahren 1941/42, Bonn 1986; Gerd Weckbecker: Die Rechtsprechung der nationalsozialistischen Sondergerichte Frankfurt/Main und Bromberg, Baden-Baden 1995.
[2] Tomasz Jaszowski: Hitlerowskie prawo karne na Pomorzu, 1939-1945 [Das nationalsozialistische Strafrecht im Reichsgau Danzig-Westpreußen], Warszawa 1989; Jan Waszczyński: Z działalności hitlerowskiego sądu karnego w Łodzi, 1939-1945 [Aus der Tätigkeit des nationalsozialistischen Strafgerichts in Lodz 1939-1945], in: Biuletyn Glównej Komisji Badania Zbrodni Hitlerowskich w Polsce 24 (1972), 14-104.
Hans-Jürgen Bömelburg