Rebecca Giselbrecht / Sabine Scheuter (Hgg.): "Hör nicht auf zu singen". Zeuginnen der Schweizer Reformation, Zürich: TVZ 2016, 268 S., 11 s/w-Abb., ISBN 978-3-290-17850-5, EUR 35,90
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Seit geraumer Zeit hat sich die Forschung zunehmend dem Thema 'Frauen in der Protestantischen Reformation' gewidmet, was nun in einem weiteren Schritt auf einer Tagung in Zürich vom 20.-22. August 2014 speziell auf die Situation in der Schweiz bezogen ausgedehnt wurde. Der vorliegende Band versammelt die dort gehaltenen Vorträge in erweiterter Fassung, wenngleich weiterhin der Tonfall und die Darstellungsweise wohl intentional so gestaltet sind, dass vor allem die breitere Öffentlichkeit angesprochen wird. Mit der Ausnahme von Helmut Puff melden sich Theologinnen und Historikerinnen zu Wort, was generell bedeutet, dass individuelle Frauengestalten biografisch vorgestellt werden, während ihre eigentlichen Leistungen, wofür sie vor allem heute Anerkennung verdienen sollten, also ihre Kirchenlieder, Briefe oder Traktate zwar angesprochen, aber nicht explizit genug behandelt werden.
Die Beiträge gliedern sich in die folgenden thematischen Gruppen: Reformatorisches Denken und die Frauen; Zeuginnen der Schweizer Reformation und sozialgeschichtliche Frauen- und Männerbilder im Europa des 16. Jahrhunderts. Der Buchtitel deutet aber eigentlich an, dass hier die Rolle von Frauen als Schöpferinnen von Kirchenliedern behandelt werden sollte, was leider praktisch gar nicht zur Sprache kommt. Umso wertvoller erweisen sich aber die Bemühungen aller Autoren und Autorinnen, bisher weniger bekannte Frauen vorzustellen, die auf intellektuelle Weise während der Reformationszeit in der Schweiz aus dem Schatten traten und sich als vollwertige Mitglieder des öffentlichen theologischen Diskurses behaupteten.
Christine Christ-von Wedel beginnt mit einem Aufsatz über die Ansichten des berühmten Humanisten Erasmus von Rotterdam über Frauen, die er als völlig gleichwertig mit Männern beurteilte, auch wenn er mit dieser Meinung weitgehend alleine dastand. In einer guten Ehe seien Mann und Frau eng miteinander befreundet und würden sich gegenseitig vollständig anerkennen. Und Witwen verdienten ganz besondere Würdigung, was so manche bisherige Meinung über den Frauendiskurs in der Frühneuzeit untergräbt. Allerdings ist dies bisher schon häufiger in der hier nur ganz dürftig berücksichtigten Forschung angesprochen und kritisch beleuchtet worden. Selbst die große Untersuchung von Britta-Juliane Kruse fehlt hier, von nicht-deutschen Studien ganz zu schweigen. [1]
Isabelle Graesslé reflektiert allgemein über die gegenwärtige Forschung zu Frauen in der Reformation in der Schweiz, behandelt speziell Wibrandis Rosenblatt, die nacheinander mit drei wichtigen Humanisten bzw. Reformatoren verheiratet war, und Marie Dentière, die zunächst mit Calvin und Farel befreundet war, sich aber dann mit ihnen entzweite, weil sie in ihrer Geschichte der Reformation in Genf die Bedeutung von Frauen anders gewichtete. Nur ein Zitat von ihr wird hier aufgenommen; ansonsten bleibt Graesslé auf einer sehr allgemeinen Ebene und rekurriert kaum gründlicher auf die heutige Forschung.
Im nächsten Abschnitt behandelt zuerst Rebecca A. Giselbrecht eine ganze Reihe von reformatorisch tätigen Frauen wie Anna Reinhart Zwingli, Margaret Hottinger und Anna Adlischwyler Bullinger. Elsie McKee berücksichtigt das Eheverhältnis von Katharina Schütz Zell und Matthäus Zell sowie von Idelette de Bure und Johannes Calvin. Kirsi Stjerna macht uns auf die Prophetin Ursula Jost, die Verlegerin Margaretha Prüss und die Schriftstellerin Marie Dentière aufmerksam, aber sie fasst nur grob die wichtigsten Punkte zusammen und geht weniger auf deren Texte selber ein. Sie kommen hier nicht zu Worte. Urte Bejick präsentiert die relativ bekannte Margarete Blarer, die mittlerweile sogar recht gut in Wikipedia et al. vertreten ist. [2] Sie war mit Bucer befreundet und unterhielt einen regen Briefwechsel mit wichtigen Persönlichkeiten, sie blieb aber zeit ihres Lebens unverheiratet und entwickelte starke Wohltätigkeitsaktivitäten.
Im dritten Abschnitt argumentiert zuerst Susan Karant-Nunn, dass die Protestantische Reformation kaum einen großen Wechsel im Geschlechterverhältnis bewirkte und dass Frauen keineswegs wesentlich besser gestellt waren als früher. Sie illustriert dies anhand von einigen Quellen, aber die Thematik ist doch erheblich komplexer und müsste auf viel umfassenderer Textbasis belegt werden. Es liegen uns zahllose Ehepredigten vor, in denen recht unterschiedliche Perspektiven auf die Ehefrau entwickelt werden und wo keineswegs eine schlicht patriarchalische Position zum Ausdruck kommt. [3] Es wäre z.B. nützlich gewesen, wenn sie sich z.B. auch mit der wichtigen Arbeit von Heide Wunder auseinandergesetzt hätte. [4] So bleibt der Eindruck, als ob im 16. oder 17. Jahrhundert Frauen generell mundtot gemacht worden wären, was ganz im Widerspruch zu dem steht, was die anderen Beiträgerinnen explizit zur Sprache bringen und was mittlerweile in der Forschung auch ganz anders beurteilt wird. [5]
Zuletzt bemüht sich Helmut Puff darum, die Reformation als eine Zeit zu identifizieren, in der sehr stark die Bedeutung und das Wesen von Maskulinität hinterfragt worden seien. Er entwirft aber ein sehr gemischtes Bild und bietet eine Fülle von Beispielen, wo die traditionelle Männerrolle durch neue soziale Institutionen entweder gefestigt oder staatlich untergeordnet wurden. Im Gegensatz zu Karant-Nunn schlussfolgert er sogar, dass die Institution des Patriarchats keineswegs im 16. Jahrhundert so festgelegt war, dass Frauen vollkommen darunter versinken mussten. Dafür aber lief ein starker Prozess der globalen Patriarchalisierung ab, der sogar für viele Männer mit vielen Problemen behaftet war. Es bleibt etwas unklar, wie dieser Beitrag in diesen Sammelband passt, in dem außer Puff kein anderer männlicher Forscher auftritt.
Der Band schließt mit einer Bibliografie, dem Bilderverzeichnis und knappsten biografischen Hinweisen über die Autoren und Autorinnen ohne jegliche Daten (mit einer Ausnahme). Man wird am Ende nicht ganz klug daraus, was die Herausgeberinnen angepeilt haben mochten. Die meisten Beiträge richten sich eher an die Öffentlichkeit und sind primär als Einführungen gedacht, auch wenn ein wissenschaftlicher Apparat stets angehängt ist. Die Aufsätze von Karant-Nunn und Puff argumentieren auf der Basis von Thesen, die sie ordentlich verteidigen, die aber so breit angelegt sind, dass sie doch in der Luft zu hängen scheinen. Die einleitenden Bemerkungen von Karla Apperloo-Boersma wollen Weichen stellen zum Thema hin, sind aber so generell formuliert, dass man daraus nichts Handfestes gewinnt. Der Mittelteil dieses Buches bietet die wichtigsten Informationen, man hätte sich aber gerne genauere Textanalyse (wo möglich) gewünscht. Wieso ein Index nicht angelegt wurde, was gerade bei diesem wertvollen Vorstoß Richtung Frauen in der Schweizer Reformationsgeschichte extrem wichtig gewesen wäre, bleibt unerfindlich.
Anmerkungen:
[1] Britta-Juliane Kruse: Witwen: Kulturgeschichte eines Standes in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Berlin / Boston 2007; Yasmina Foehr-Janssens: La Veuve en majesté. Deuil et savoir au féminin dans la littérature médiévale, Genève 2000; Louise Mirrer (ed.): Upon My Husband's Death: Widows in the Literature and Histories of Medieval Europe, Ann Arbor, MI 1992.
[2] Vgl. Wikipedia Artikel Margarete Blarer: https://de.wikipedia.org/wiki/Margarete_Blarer; vgl. auch http://www.frauen-und-reformation.de/?s=bio&id=9 (Abruf am 08.03.2016).
[3] Vgl. dazu Albrecht Classen: Der Liebes- und Ehediskurs vom hohen Mittelalter bis zum frühen 17. Jahrhundert, Münster u.a. 2005.
[4] Heide Wunder: "Er ist die Sonn', sie ist der Mond": Frauen in der Frühen Neuzeit, München 1992.
[5] Siehe z.B. Eva Labouvie: Frauen in Sachsen-Anhalt: Ein biographisch-bibliographisches Lexikon vom Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert, Köln u.a. 2016.
Albrecht Classen