Kolja Lindner: Die Hegemoniekämpfe in Frankreich. Laizismus, politische Repräsentation und Sarkozysmus (= Argument Sonderband Neue Folge; Bd. 321), Hamburg: Argument Verlag 2017, 302 S., ISBN 978-3-86754-321-7, EUR 19,00
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"Mit zunehmendem Alter bin ich bescheiden geworden. Macron, das bin ich, nur besser!" So zitierte am 7. Juni dieses Jahres die französische Satirezeitschrift Le canard enchaîné Nicolas Sarkozy und reagierte so auf Vergleiche zwischen dem ehemaligen Präsidenten und dem neu gewählten Emmanuel Macron. Denn beide präsentierten sich als Gegenentwurf zum etablierten politischen System der V. Republik. Beide experimentierten mit neuen Formen politischer Meinungsbildung und Organisation. Auch vor diesem aktuellen Hintergrund gerät die im Argument Verlag erschienene Analyse der "Hegemoniekämpfe in Frankreich" von Kolja Lindner zu einem Spiegel der Gegenwart. Der Autor stellt die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Politik in sich als säkularisiert verstehenden Gesellschaften und verbindet dabei theoretische Reflexion und politische Intervention. Dies unterscheidet die im Rahmen einer deutsch-französischen Co-Tutelle entstandene politikwissenschaftliche Dissertation, die sich an Stuart Halls Hegemonieanalysen orientiert, von ähnlichen Veröffentlichungen und macht sie zur anregenden Lektüre. [1]
Gefragt wird, wie während einer seit dem Wahlerfolg des Front National 2002 konstatierten Krise in Frankreich unter dem Einfluss des Ministers und Präsidenten Nicolas Sarkozy "politische Herrschaft aufgebaut, plausibilisiert und verstetigt" (9) wurde. Der Titel gibt den Aufbau der Studie vor: Mit Laizismus, politischer Repräsentation und "Sarkozysmus" sind die thematischen Schwerpunkte gesetzt, die Lindner ausgehend von der Auswertung großer französischer Tageszeitungen, politischer Expertenliteratur und juristischer Texte entfaltet. Auch wenn Sarkozys stilisiertes Konterfei auf dem Buchtitel prangt, will der Autor "Sarkozysmus" nicht als personalisierendes Etikett verwenden, sondern sucht das politische Handeln jenes Mannes, der Frankreich zwischen 2007 und 2012 regierte, in "einen Kontext weitreichender gesellschaftlicher und politischer Verwerfungen" (10) einzubetten.
Dieses Programm verfolgt auch der theoretische Bezugsrahmen. Lindner versteht Gramscis Begriffe "Hegemonie und Zivilgesellschaft" nicht als "Bonmots" (27), sondern entwickelt auf 40 Seiten in Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Hegemoniekonzepten - die in ihrer Ausführlichkeit zuweilen an eine Seminararbeit erinnert - einen "abgegrenzten und analytischen Hegemoniebegriff" (62), der darauf zielt, spezifische Formen von Herrschaftsgewinnung und -praxis in Gesellschaften mit struktureller Ungleichheit in den Bereichen "class, race, gender" (62) zu fassen. Dies sieht er nicht nur als Theoriebeitrag zur wissenschaftlichen Debatte, sondern als mögliche "Grundlage einer neuen, kritischen Gesellschaftstheorie" (48) jenseits von marxistisch und postmodern inspirierten Angeboten. Mit dieser "forschungspraktischen Wendung" (22) erprobt der Autor seinen Bezugsrahmen schließlich im zweiten Kapitel am Fallbeispiel der Auseinandersetzungen um das Verhältnis zwischen Politik und Religion im französischen Laizismus. In seiner historischen Darstellung zeichnet er die Entwicklung des Laizismus à la française seit dem 19. Jahrhundert hin zu einem verfestigten Konflikt nach, was am Beispiel des Verhältnisses zwischen Islam und Laizismus in Anlehnung an Gramsci als "organische Krise" (67) beschrieben wird. Folgt man Lindner, dann sei die Beziehung zwischen Republik und Islam "weniger von laizistischen Grundsätzen als von einem rassistisch-paternalistischen Gallikanismus" (106) gekennzeichnet. Zugleich versteht er seine Darstellung des Laizismus als "immanente[n] Kritik" (106) mit "transformatorische[m] Anspruch" (106). Er plädiert dafür, den Laizismus im postkolonialen Sinne zu "provinzialisieren", um einem von ihm als "eurozentrisch" (107) beschriebenen säkularen Verständnis des Politischen entgegenzutreten.
Auch dem französischen Modell der politischen Repräsentation der V. Republik attestiert Lindner eine Krise aufgrund des Widerspruchs zwischen Anspruch und gesellschaftlicher Wirklichkeit. Dies sei per se kein französisches Problem, aber laut Lindner Ausdruck einer Staatshaltung, die dem Einzelnen "grundsätzliche Unmündigkeit" unterstelle (123). Zudem dethematisiere die "Figur des republikanischen Staatsbürgers" soziale Ungleichheit - oder mit der Neuen Politikgeschichte Bielefelder Prägung gesprochen: depolitisiert diese und entzieht ihr so die Brisanz [2] - denn sie beziehe sich ausschließlich auf die Position des "weißen, katholischen Mannes" (123).
Nun hat vor allem die politische Linke seit den 1970er-Jahren auf die "zunehmende ethnische Pluralisierung der französischen Bevölkerung" (132) mit den Stichworten "Multikulturalismus" (132), "Integration" (137), "Antidiskriminierung" (139) und "Diversität" (141) reagiert. Zugleich, wie zuletzt bei Didier Eribon eindrucksvoll beschrieben, hat sie ihre Monopolstellung in der politischen Repräsentation der Arbeiterschaft verloren. [3] Wie die bürgerliche Rechte unter dem Einfluss Sarkozys - zu dessen Regierungen mit Rachida Dati und Rama Yade auch Angehörige "rassifizierte[r] Minderheiten" (211) gehörten - durch Prozesse wie "Aneignung" (142) und einer "Verschiebung von Hegemonieverhältnissen" (132) diese Themen und Entwicklungen bearbeitet hat, zeigt Lindner schließlich in einer Art Dreitakter von Aufstieg, Hochzeit und Niedergang der Sarkozyschen Politik in den Kapiteln vier, fünf und sechs. Ab dem Jahr 2002 suchte Sarkozy, zunächst als Innenminister, das Verhältnis von Republik und Islam durch die Gründung eines zentralen Repräsentationsorgans des französischen Islams zu lösen (Conseil français du culte musulman, CFCM). Doch sei diese Hegemoniepolitik gegenüber den islamischen Organisationen durch ihre "liberal-autoritäre[n] Synthese" und in ihrer "Kombination von Zwang und Konsens" (152) schließlich gescheitert. Trotzdem sei es Sarkozy in dieser vorpräsidentiellen Zeit gelungen, den "bürgerlich-rechten Hegemonieapparat" auszubauen (171). Es folgt mit den ersten Präsidentschaftsjahren und unter dem Einfluss von think tanks die Hochzeit, in der Themen der politischen Linken langfristig besetzt worden seien. Warum darauf der Niedergang folgte, erklärt Lindner nicht nur mit parteiinternen Problemen und Entwicklungen, sondern vor allem mit der Wandlung des "neuen Laizismus" zu einem "Synonym für Islamfeindschaft" (234) sowie mit nationalen Identitätsdebatten; als Stichworte genügen Vollverschleierung, Umgang mit dem kolonialen Erbe und Minderheiten.
Zum Abschluss führt Lindner seine Ergebnisse noch einmal zusammen, stellt Thesen auf und verbindet die theoretisch orientierte Analyse der Gegenwart mit einer Herleitung von Handlungsmöglichkeiten für die Zukunft. Dieser Anspruch ist auch die Stärke der Studie und verdeutlicht den Charakter eines veritablen Debattenbeitrags. Dennoch seien ein paar Einwände genannt: So setzt der Autor sein theoretisch-gesellschaftspolitisches Programm bis in die sprachliche Gestaltung um, was in den Fällen des weiblichen Plurals einer geschlechtersensiblen Sprache auch zu Irritationen beim Lesen führen kann. Häufig finden sich prägnante Argumentationen und Positionierungen in ausführlichen Fußnoten und in den ein- bis zweiseitigen thematischen - "Zoom" genannten - Einschüben, deren Integration in den Haupttext dem zuweilen deskriptiven Ton gut getan hätte. Zugleich nimmt diese Form der Darstellung den Hegemoniekämpfen das spannende Moment: die Konfrontation. Die politische Linke und die Vertreter der islamischen Organisationen werden als zentrale Akteure der Hegemoniekämpfe verhältnismäßig knapp und reaktiv dargestellt. Interessant wäre deshalb gewesen, sich nicht nur an die politische Linke zu richten: Inwiefern bestehen für Vertreter des Islams in Frankreich Möglichkeiten und Handlungsoptionen, an der von Lindner angeregten Reformulierung des französischen Laizismuskonzepts trotz des Scheiterns eines zentralen islamischen Repräsentationsorgans beizutragen? Trotz dieser Kritikpunkte regt das Buch zum Nachdenken und zur Debatte an - was dem Autor ein Anliegen sein dürfte.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Jeremy Ahearne: Government through Culture and the Contemporary French Right, London 2014.
[2] Einen Überblick bietet: Tobias Weidner: Die Geschichte des Politischen in der Diskussion, Göttingen 2012.
[3] Vgl. Didier Eribon: Rückkehr nach Reims, Berlin 2016.
Silja Behre