Raya Morag: Waltzing with Bashir. Perpetrator Trauma and Cinema, London / New York: I.B.Tauris 2013, XVI + 275 S., ISBN 978-1-78076-264-7
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1967 als die wichtigste Zäsur der Geschichte des modernen Israel und mithin des Nahostkonflikts markiert auch den Beginn der inzwischen ein halbes Jahrhundert währenden militärischen Besatzung der Palästinensergebiete. Welche Folgen hat die Okkupation für die israelische Gesellschaft? Raya Morag, Kulturwissenschaftlerin und Professorin an der Jerusalemer Hebräischen Universität, nimmt das in der israelischen Forschung wenig beachtete Phänomen des Traumas der Besatzer unter die Lupe. [1] Sie fragt nach den Formen der Traumata im Zuge der Zweiten Intifada. Antworten sucht sie im israelischen Kino, und zwar im israelischen Dokumentar- sowie Spielfilmkino des neuen Millenniums. Das Buch zielt auf "ein neues Verständnis des nationalen Traumas in der Kinoforschung, ein Verständnis, das zwischen dem Trauma der Opfer und dem der Besatzer zu unterscheiden weiß" (20). Zur Besatzung positioniert sich die Autorin deutlich: "Als linke Israelin, in einem ein halbes Jahrhundert andauernden, verachtenswerten Besatzungsregime gefangen, suche ich [...] einen Ausweg. Dies wird aber nur möglich sein, wenn wir die politische sowie die gesellschaftliche Verantwortung für die in meinem Namen vollzogene Besatzung übernehmen." (14f.)
In ihrer ausführlichen Einleitung versucht Morag, die Differenz zwischen dem Trauma des Opfers und dem Trauma des Täters theoretisch auszuloten. Dabei gelangt sie zum dialektischen Begriff Persecuted Perpetrator: Bezogen auf die in den besetzten Gebieten eingesetzten israelischen Soldaten erklärt Morag diesen Begriff mit der jüdisch-historischen Identitätskrise: Als Subjekte des israelischen Kollektivs seien sie gewissermaßen die zweite und dritte Generation der Shoah. Die Leidensgeschichte der Juden als verfolgtes Volk laste auch auf dem israelischen Kollektiv, das nun in die Position eines verfolgten Besatzers geraten sei (52f.). Mit diesem Begriff weist Morag auf die zwei in Israel geläufigen Haltungen zur Besatzung hin: Die eine verleugne partout die israelische Rolle als Besatzungsmacht und verharre mithin im historisch gewachsenen, jüdisch-israelischen Opfer- beziehungsweise Verteidigungsmodus. Die andere hingegen nenne die Besatzungsherrschaft mit all ihren problematischen Konsequenzen beim Namen, wenn auch zugleich die prägende Rolle der jüdischen Leidensgeschichte für Israel betont werde (54).
Unter der Überschrift Victim Trauma behandelt Morag die Traumata der unmittelbaren israelischen Opfer der Zweiten Intifada in Dokumentar- und Spielfilmen; sie tut dies anhand dreier Themen: The Body as the Battlefield, Chronic Victim Trauma and Terror, Queerness, Ethnicity, and Terror. Morag spricht im Zusammenhang der Zweiten Intifada und des palästinensischen Terrorismus von einem "neuen Krieg" (75). Im "neuen Krieg" sei der menschliche Körper als solcher das Ziel, er stelle das Schlachtfeld dar. Die gezielte Tötung willkürlich getroffener Zivilisten werde zum Normalfall, geradezu zum eigentlichen Ziel. Im "neuen Krieg" gerate das Verhältnis Körper/Leiche aus dem Gleichgewicht. Hier ist die Rede von der "Krise des Körpers" (77). Wie am Beispiel des Dokumentarfilmes "Der 17. Tote" (2003) gezeigt wird, begibt sich der Filmemacher David Ofek anhand der nicht identifizierbaren Leiche eines Attentat-Opfers auf die Suche nach dem Opfer und findet dessen Identität im Laufe der Dreharbeiten tatsächlich heraus. Hier erschließt Morag die unmittelbare Nähe zum in den israelischen Spielfilmen dezidiert verdrängten Elend im "neuen Krieg". Die israelischen Dokumentarfilme befassten sich "fast besessen" (72) mit den Auswirkungen der Besatzung auf die Besatzer. Sie zeichneten sich dadurch aus, dass sie konfrontativ mit dem Gräuel und dem Elend der Zweiten Intifada umgingen und sich dabei nicht scheuten, den in Israel üblichen entpolitisierten Diskurs in Frage zu stellen. Morags Fazit: Das Dokumentar-Kino der Zweiten Intifada habe einen durch Terror und Trauma geprägten "neuen" Israeli kreiert; dieser bewege sich zwischen "einem hysterischen, dem gelähmten Diskurs unterworfenen Körper" einerseits und "einer in Elend zum Schweigen gebrachten Leiche" andererseits (108).
In Queerness, Ethnicity, and Terror nähert sich Morag dem Thema Homosexualität zwischen jüdischen Israelis und Palästinensern im Film an, und zwar vor dem Hintergrund von Konflikt und Terror. Dies tut sie anhand zweier Filme: des israelischen Films von Eythan Fox "The Bubble" (2006) und des palästinensischen Kurzfilms "Diary of a Male Whore" (2001) von Tawfik Abu Wael. Ihre Erkenntnis: Beide Filme bewegten sich in posttraumatischen Räumen, die von höchst umstrittenen historischen Ereignissen durchdrungen sind. Die inter-ethnischen Begegnungen der Filmfiguren seien von "Verleugnung, Verdrängung, Projektion und Fantasie geprägt" (178). Keine Versöhnung zwischen den beiden Völkern liest Morag aus den Filmen heraus, sondern vielmehr die pathologische Wiederholung des ungelösten Konflikts.
Unter der Überschrift Perpetrator Trauma kommt Morag zum eigentlichen Thema ihres Buchs - zum Trauma des israelischen Soldaten als Besatzer, ja als Unterdrücker: Der Abschnitt The New Wave of Documentary Cinema: The Male Perpetrator behandelt die Sicht israelischer Täter in Krieg und Besatzung; der Abschnitt The New Wave of Documentary Cinema: The Female Perpetrator gibt faszinierende (Ein)Sichten in die Welt israelischer Soldatinnen. Im Abschnitt The New Wave of Documentary Literature analysiert Morag schließlich ausgewählte Zeugnisse, die sie der Homepage von "Breaking the Silence" entnommen hat, einer 2004 von israelischen Soldaten im Zuge und aufgrund der Auswüchse der Zweiten Intifada gegründeten Organisation. Drei besonders aussagekräftige, allesamt anti-kriegerische Dokumentarfilme bilden hier ihren Quellenkorpus: "Ob ich da auch lächle" (2007) von Tamar Marom; der Oskar-nominierte "Waltz mit Bashir" (2008) von Ari Folman und "Z 32" (2008) von Avi Mograbi. In diesen Filmen hadern die Protagonisten mit ihrer Rolle in Krieg und Besatzung. Dabei gestehen sie sich ihre Taten nur allmählich und im langen Prozess der Selbstentblößung ein, geplagt von Selbstkritik und Reue, von Einsamkeit und traumatisierender Ohnmacht.
Fünf schuldbehaftete, mithin ungelöste Krisen des Traumas des Besatzers erschließt Morag in ihrer Analyse: Erstens, sich selbst eigene Täterschaft eingestanden zu haben, zweitens, sich nach außen entlarven zu müssen, drittens, das Gender-Problem der weiblichen Täterschaft in der Männerwelt des Kriegs, viertens, das fehlende "Publikum", sprich die fehlende Unterstützung aus der Gesellschaft für den Akt der Einsicht und des Eingestehens, und schließlich damit eng verbunden, fünftens, die Krise des Narrativs (184).
Hier ist ein wichtiger Punkt genannt: Akut wird das Trauma gerade im Zuge der fehlenden Bereitschaft der jüdisch-israelischen Gesellschaft, die Besatzung als "Atrocity producing situation" (Robert Lifton) anzuerkennen, geschweige denn sich mit ihrem historisch-politischen Entstehungskontext wirklich auseinanderzusetzen. Die unüberbrückbare Differenz zwischen individueller Einsicht und fehlender gesellschaftlicher Resonanz verschärfe die Einsamkeit der einsichtigen Soldatinnen und Soldaten - und verschärfe damit auch ihre Traumata. Die israelische Gesellschaft sei auch im neuen Millennium nicht soweit, sich vom Narrativ der Notwendigkeit von Krieg und Besatzung zu verabschieden. Gerade im Zuge der Zweiten Intifada führe dieses Verständnis dazu, die politische Ordnung des modernen Israel geradezu versteinern zu lassen.
In ihrem kurzen Epilog The Perpetrator Complex führt Raya Morag das israelische Dilemma hauptsächlich auf die ungelösten Beziehungen zwischen der Gesellschaft und den in ihrem Namen agierenden Soldaten und Soldatinnen zurück. Von dem "unwillkommenen Geist" (21) ist dabei die Rede. Offen bleibt allerdings, wie stark der hier suggerierte Konflikt - letztlich zwischen den der zionistischen Staatsräson zugrunde liegenden staatlichen Strukturen einerseits und der diese Strukturen tragenden Gesellschaft mit ihren Individuen andererseits - in Israels politischer Ordnung wirklich ausgeprägt ist. Kurzum: Wie repräsentativ sind die hier behandelten Film-Figuren für Israels politische Ordnung? Schließlich hat diese Ordnung es geschafft, wiederholt Kriege zu verkraften und eine Besatzungsordnung so zu etablieren, dass ihre Aufhebung für Besatzer wie Besetzte kaum vorstellbar erscheint.
Raya Morags Buch ist allemal lesenswert, nicht zuletzt, weil hier über ein zentrales Merkmal von Israels gesellschaftlicher Ordnung gut reflektiert wird: über die Dialektik von Opferschaft und Täterschaft. Raya Morags Werk ruft souverän die akute Sinnkrise des zionistischen Israel im neuen Jahrtausend ins Bewusstsein - eine Krise, die nach Antworten auf die ein Jahrhundert alte, historische wie politisch-territoriale Palästina-Frage verlangt.
Anmerkung:
[1] Der Besprechung liegt die hebräische Ausgabe zugrunde: Raya Morag: Perpetrator Trauma and Israeli Intifada Cinema, Tel Aviv 2017.
Tamar Amar-Dahl