Rezension über:

Udo Wengst: Theodor Eschenburg. Biographie einer politischen Leitfigur 1904-1999, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2015, 279 S., 19 s/w-Abb., ISBN 978-3-11-040289-6, EUR 34,95
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Rezension von:
Jens Hacke
Martin-Luther-Universität, Halle-Wittenberg
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Jens Hacke: Rezension von: Udo Wengst: Theodor Eschenburg. Biographie einer politischen Leitfigur 1904-1999, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2015, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 12 [15.12.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/12/28482.html


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Udo Wengst: Theodor Eschenburg

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Die vergangenen zwei Jahrzehnte sind durch intensive Debatten um die braunen Flecken in den Biographien der altbundesrepublikanischen Eliten in Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur gekennzeichnet. Ein letzter Höhepunkt war die Kontroverse um Theodor Eschenburg, eine Gründungsfigur deutschen Politikwissenschaft. Eschenburg war nicht nur einer der einflussreichsten Universitätsprofessoren, sondern auch ein hoch angesehener Publizist, der im Zeitalter vor den Talkshows regelmäßig dem politischen Personal die Leviten las, "institutionelle Sorgen" artikulierte und die Tagespolitik einer breiten Zeitungsöffentlichkeit erklärte.

Dass die Deutsche Vereinigung für Politische Wissenschaft, der Dachverband der Politologen, ihren wichtigsten Preis für ein Lebenswerk seit 2003 nach ihm benannte, spiegelte seine Bedeutung wider. Bereits andere skandalisierte NS-Vergangenheiten (W. Conze, Th. Schieder, R. Jauss, H. Schneider/Schwerte u.a.) hatten historisierende Aufklärungsprozesse in Gang gesetzt, der Fall Eschenburg allerdings hatte schwerwiegende institutionelle Folgen: seine Verstrickung in "Arisierungsmaßnahmen" (die seit Rainer Eisfelds Studien bekannt sind), die zeitweilige SS-Mitgliedschaft und sein geschönter autobiographischer Rückblick auf die eigenen Aktivitäten während des Nationalsozialismus stellten den Namensgeber des DVPW-Preises auf den Prüfstand. Claus Offe, der Preisträger des Jahres 2012, hatte in seiner Dankesrede nicht nur seinem Unbehagen Ausdruck verliehen, sondern konkret vorgeschlagen, den Preis umzubenennen. Nach heftigen Auseinandersetzungen, gegenseitigen Anschuldigungen und Verbandsaustritten beschloss der DVPW-Vorstand, den Preis künftig nicht mehr zu vergeben. [1]

Mit Udo Wengsts Eschenburg-Biographie liegt nun die erste, lang erwartete und umfassende Arbeit zu Eschenburg vor. Der Münchener Historiker und langjährige stellvertretende Direktor des Instituts für Zeitgeschichte hatte sich bereits während der Debatte als Verteidiger seines ehemaligen Tübinger Lehrers profiliert - und als ehemaliger Redakteur der Vierteljahrshefte sieht er sich dem früheren Mitherausgeber Eschenburg zusätzlich verbunden. Wengst möchte Eschenburgs Verhalten im Nationalsozialismus in ein angemessenes Verhältnis zu Lebenswerk und Lebensleistung setzen. Es ist die alte Frage nach Handlungsspielräumen und Alternativen sowie dem Stellenwert des Moralischen in gewissen Lebens- und Karriereentscheidungen, die den Kern des Streits ausmachen.

Keinen Hehl macht Wengst aus der nationalistischen Prägung Eschenburgs, dessen Vater, ein hochdekorierter Marineoffizier, zeitlebens ein revanchistischer Monarchist blieb. Die Mitgliedschaft in der Burschenschaft "Germania" und Eschenburgs Engagement im "Hochschulring deutscher Art" hatten noch nichts mit einer nachträglich reklamierten liberalen oder "vernunftrepublikanischen" Haltung zu tun. Sein Ehrgeiz, sich in Führungspositionen zu profilieren, lebte sich zunächst einmal im vertrauten rechtsbürgerlichen Milieu aus. Es muss die Begegnung mit Gustav Stresemann gewesen sein, die Eschenburg für gemäßigte liberale Positionen empfänglich machte und ihn zumindest dazu brachte, den Rahmen der Verfassungsordnung zu akzeptieren.

Wenn Eschenburg als Republikaner oder gar als Demokrat in Weimars Endphase zu bezeichnen wäre, so hätte es einer ausführlichen Historisierung dieser Begrifflichkeiten bedurft. Demokratie, das wird aus Wengsts kursorischen Hinweisen deutlich, war für Eschenburg allenfalls in autoritärer Form einer "Führerdemokratie" denkbar, wie sie Alfred Weber bereits Mitte der 1920er im Anschluss an seinen Bruder Max vertrat. Solche elitendemokratischen Konzepte waren durchaus Bestandteil zeitgenössischer linksliberaler Konzeptionen; Wengst erwähnt zurecht Alexander Rüstows nebligen Versuch, eine Diktatur in den Grenzen der Demokratie vorstellbar zu machen.

Was Eschenburg von Linksliberalen unterschied, war seine ausschließliche Konzentration auf den Staat, die Institutionen, die Bürokratie und die Entscheidungsträger. Gesellschaft, Bürgerbeteiligung oder soziale Fragen spielten bei Eschenburg keine nennenswerte Rolle. Seine zeithistorischen und politischen Interessen waren auf jene Männer ausgerichtet, die Geschichte machten, wie seine publizistischen Porträts aus dem Herbst 1932 in der Vossischen Zeitung belegten, die er pseudonym Brüning, Hindenburg und Schleicher widmete (86f.). Die interessante Frage, ob und wie Eschenburg seine Ansichten im Laufe der Zeit - und besonders im Hinblick auf seine Weimar-Forschungen der 1950er Jahre - modifizierte, wird von Wengst gar nicht gestellt.

Es fällt schwer, Wengst gegen seine Kritiker zu verteidigen [2], wenn es um Eschenburgs Mitläufertum in den Jahren 1933-45 geht. Grundsätzlich kann es keinen Zweifel daran geben, dass er sich relative bequem und finanziell gut ausgepolstert als Syndikus der Knopfindustrie dem Regime anpasste. Eschenburg teilte die üblichen großbürgerlichen Vorbehalte gegenüber dem Nationalsozialismus, aber es gelang ihm anscheinend problemlos, politisch unauffällig zu bleiben und seine Karriere weiterzuverfolgen. Auch Wengst lässt keine Zweifel daran, dass er mittelbar "der antijüdischen Politik der Nationalsozialisten" seine Karriere verdankte. Nicht nur rückte Eschenburg später in die Position der jüdischen Anwälte ein, die ihn 1933 angestellt hatten, er profitierte auch von "Arisierungen", die er - wie "anständig" auch immer - mit abwickelte. Es bleibt unverständlich, wie Wengst Eschenburgs Aktivitäten als "innere Emigration" (nach Definition eines Brockhaus-Artikel aus dem Jahr 1988!) verbrämen kann (133), nachdem er dessen SS-Mitgliedschaft und die allerlei weitere regimekonforme Aktivitäten rekonstruiert hat.

Überdies arbeitet Wengst Eschenburgs aktive Vertuschung der eigenen NS-Vergangenheit heraus, die er in den Fragebögen der Alliierten amtlich werden ließ und sich damit nicht nur strafbar machte (indem er seine Mitgliedschaft in NS-Organisationen verschwieg), sondern auch die von ihm selbst aufgestellten "Grundsätze der Denazifizierung" missachtete.

Eschenburgs fraglose Verdienste um die Entstehung des Südweststaates Baden-Württemberg, sein unbestrittenes Engagements für die politische Bildung und die akademische Installierung der Politikwissenschaft sowie seine bedeutende Rolle als öffentlicher Intellektueller werfen die Frage Hans-Ulrich Wehlers auf, inwiefern wir die persönliche Entwicklung als einen "lebensgeschichtlich motivierten Lernprozess" begreifen können. [3] Eschenburg selbst macht es uns dabei schwer. Sein Ton des Besserwissers, die selbstgewisse Benotung von Politikerleistungen, der großbürgerliche Klassendünkel und die fehlende Thematisierung eigener Irrtümer - das alles wirkt heute, wenn nicht offen unsympathisch, so doch antiquiert.

Eschenburgs Erfolg lag vermutlich eher in seiner Fähigkeit zur Netzwerkbildung als in seiner intellektuellen Brillanz. Erstaunlich bleibt dennoch, dass sich die Auseinandersetzung mit Eschenburgs Werken nur auf jeweils wenige Zeilen beschränkt und lediglich an der Oberfläche kratzt. Seine Positionen zur Rolle der Diktatur - immerhin sinnierte Eschenburg noch 1968 in einem aufsehenerregenden Vortrag über die Notwendigkeit einer "Diktatur auf Zeit" - blieben ambivalent, und sein Bild von der parlamentarischen Demokratie schien für Anpassungen an eine liberalisierte Gesellschaft wenig aufgeschlossen. Andere Positionen Eschenburgs wie seine Werbung für das Mehrheitswahlrecht waren kaum originell - Dolf Sternberger oder Wilhelm Hennis engagierten sich in ähnlicher Weise. Überhaupt bleibt es bedauerlich, dass der Verfasser seinen Protagonisten als Solitär behandelt, hätte sich doch an der Figur Eschenburgs nicht nur die Blüte und der Bedeutungsverlust der Politikwissenschaft in der Bundesrepublik zeigen [4], sondern auch die erste Epoche der NS-Aufarbeitung durch die belasteten Zeitzeugen weiter erhellen lassen.

Sicherlich ist generell nichts gegen die Biographik als Genre einzuwenden, aber es genügt nicht, das Leben und die Handlungen des Protagonisten nur aus sich selbst heraus zu verstehen. Die zahlreichen innovativen Biographien der jüngeren Vergangenheit von Ulrich Herbert bis Joachim Radkau haben gezeigt, wie man sozial-, kultur- und ideengeschichtlich sensibel arbeiten und darüber hinaus weit mehr als ein "Lebensbild" bieten kann. Sollte Wengsts These von Eschenburg als "politischer Leitfigur" einen Sinn haben, so hätte er klarmachen müssen, worin denn genau seine Autorität und Bedeutung lag. Eschenburgs Appeal mag für seine Schülergeneration wenig erklärungsbedürftig sein. Auf die Nachgeboren wirkt er mittlerweile wie ein Relikt aus fernen Zeiten - und gerade deswegen sind sein Leben und Werk weiterhin in hohem Maße auf kontextualisierende Historisierung und interpretierende Rekonstruktion angewiesen.


Anmerkungen:

[1] Zur Dokumentation der Debatte vgl. Rainer Eisfeld (Hg.): Mitgemacht. Theodor Eschenburgs Beteiligung an "Arisierungen im Nationalsozialismus", Wiesbaden 2016.

[2] Hannah Bethke: "Der Mann ist einfach nicht zu retten", in: FAZ, 11.2.2015, S. 10; Rainer Eisfeld, Rezension zu: Udo Wengst: Theodor Eschenburg. Biographie einer politischen Leitfigur 1904-1999. Berlin 2015 , in: H-Soz-Kult, 05.06.2015, www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-23560.

[3] Hans-Ulrich Wehler: Nationalsozialismus und Historiker, in: Winfried Schulze / Otto Gerhard Oexle (Hgg.): Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt/M. 1999, 306-339, hier 334.

[4] Ein gelungenes Beispiel dafür bietet Stephan Schlak: Wilhelm Hennis. Szenen einer Ideengeschichte der Bundesrepublik, München 2008.

Jens Hacke