Andreas Möhlig: Kirchenraum und Liturgie. Der spätmittelalterliche Liber Ordinarius des Aachener Marienstifts, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2016, 277 S., ISBN 978-3-412-50530-1, EUR 40,00
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Die kirchengeschichtliche Bonner Dissertation (2014) bietet in einer Teiledition den ältesten Liber Ordinarius des Aachener Marienstiftes. Aus der Handschrift des Domarchivs Aachen mit der Signatur G1 wird das Ordinarium de tempore in einer zuverlässigen Edition vorgelegt (fol. 1r - 53r; vgl. 37-176). Nur ganz wenige offensichtliche Fehler wurden festgestellt. Damit richtet der Autor seinen Fokus auf die Liturgie des Kanonikerstiftes am Aachener Marienmünster (11) und arbeitet dabei besonders den Bedeutungszusammenhang von Liturgie und Kirchenraum unter Betrachtung der Prozessionen heraus.
Im ersten Teil der Arbeit wird nach einleitenden Erörterungen zur Stifts-, Bau-, Liturgie- und Musikgeschichte (12-18) zunächst ein kurzer Abriss zur Liber-Ordinarius-Forschung geboten (20-28) sowie die Quellenlage der Libri Ordinarii der Aachener Münsterkirche vorgestellt und historisch eingeordnet (28-33). Dabei stellt Möhling die Datierungsfrage und die Herausforderungen an eine Edition, die sich durch Nachträge und andere literaturkundliche Merkmale ergeben, besonders heraus (30-31). Für die Handschrift G1, welche die Grundlage der Edition bildet, wird die Weihe der gotischen Chorhalle 1414 als terminus ante quem herausgearbeitet (30), während G2 und G3 deren Existenz bereits voraussetzen (31-32). Die Handschrift G4 schließlich, die aus der 1. Hälfte des 18. Jahrhunderts stammt (33), wird als Vergleichshandschrift für die Edition herangezogen. "Diese Vorgehensweise ist gerechtfertigt, da es sich bei den Handschriften G3-G4 um jeweils jüngere Abschriften von G2 mit geringen Abweichungen handelt." (35)
Der zweite Teil bietet sodann die eigentliche Textedition, die von Editionshinweisen eingeleitet wird. Dabei geht der Autor auf aktuelle Editionskritik ein, die er entsprechend berücksichtigt. Er betrachtet die Quelle als "unfesten Text", der "gewordene Liturgie" bezeugt, weshalb sich die "Rekonstruktion eines Urtextes" verbiete (34). Konsequent dieser Prämisse folgend wird der lateinische Text auch in der Orthografie seiner Entstehungszeit wiedergegeben. Lediglich Groß- und Kleinschreibung werden heutiger Regelung angepasst (35). Die weiteren Kriterien (Interpunktion, Auflösung der Siglen, Umgang mit Abkürzungen) sind mit Verweis auf Editionen von Andreas Odenthal nicht eigens angeführt.
Die Edition wird ergänzt durch Abbildungen der Handschriften G1-G4 sowie durch Abbildungen zur Sakraltopografie des Stiftes vor dem Bau der gotischen Chorhalle und danach.
Die Edition wird im dritten Teil ausgewertet und gewürdigt. Dabei widmet sich der Autor den Prozessionen innerhalb und außerhalb des Stiftes, möchte diese detaillierter als in der bisherigen Forschung vorstellen und historisch einordnen (193). So wird auf die Schwierigkeiten der Rekonstruktion ursprünglicher Prozessionswege hingewiesen, die Möhling in den oben genannten literaturkundlichen Merkmalen sieht. Allerdings wird dann der These vom "unfesten Text" die Prämisse gegenübergestellt, dass die "Gattung Liber ordinarius als Quelle für den (nahezu) tatsächlichen Ablauf liturgischer Feiern" (196) historisch einzuordnende Daten liefern kann. Libri Ordinarii sind jedoch als präskriptive Quellen anzusehen, deren Variabilität gerade durch Streichungen, Änderungen oder Ergänzungen offensichtlich wird. Hier stellt sich die Frage, was historische Einordnung meint.
Die Prozessionen innerhalb des Stiftes werden gemäß Kirchenjahresverlauf mit dem Advent beginnend vorgelegt. Außer der Prozession am Weihnachtstag, wenn dieser auf einen Sonntag fällt, werden die übrigen in der Handschrift aufgeführten Sonntagsprozessionen der Weihnachtszeit lediglich durch die summarische Rubrik fol. 6rb interpretiert. Diese besagt, dass dieselbe Ordnung für alle Sonntage der Weihnachtszeit gilt, also bis zum Fest der Purificatio Mariae am 2. Februar (199). Gleiches ist für die Prozessionen in der Quadragesima zu sagen. Erst im Abschnitt über die Sonntage nach Pfingsten - der moderne Begriff "Sonntage im Jahreskreis" (222) hätte hier vermieden werden müssen - gibt der Autor zu dieser Frage eine zusammenfassende Interpretation der Sonntagsprozessionen. Warum aber die Prozession am Johannistag (ad sanctum Iohannem ad gradum), die zwar von späterer Hand gestrichen wurde und in G4 unerwähnt bleibt, mit keinem Wort gewürdigt wird, bleibt fraglich (52). Gerade diese Streichung gibt ja Zeugnis "gewordener Liturgie" im konkreten Kirchenraum.
Der inhaltliche Schwerpunkt der Arbeit liegt auf der Auswertung der Prozessionen der Karwoche, des Osterfestes und der österlichen Festzeit bis Pfingsten (201-222). Hier findet der Autor besonders für die Frage nach der Sakraltopografie der Münsterkirche umfangreiches Material, das er entsprechend übersichtlich und verständlich aufarbeitet. Dazu werden vor allem Denudatio und Ablutio der Altäre (204-208) ausgewertet und einem Rekonstruktionsversuch zugrunde gelegt (208).
Der Autor geht daneben besonders auch auf dramatisierende Liturgieelemente ein, nämlich ein "angedeutetes Weihnachtsspiel" (199), die Visitatio sepulchri (217) und den "Pfingstbrauch" (221), der als dramatisierende Darstellung der Geistsendung zu interpretieren ist.
Geben die Prozessionen innerhalb der Stiftskirche Aufschluss über eine Binnensakraltopografie, wird durch die Betrachtung der Prozessionen, bei denen die Stiftskirche verlassen wird, die Sakraltopografie der Aachener Kirchenfamilie deutlich. Dazu werden die Litaniae minores (222-225), die Himmelfahrtsprozession zum Marktplatz als Nona aurea (225-226) sowie die Fronleichnamsprozession (226-227) vorgestellt. Mittels eines Übersichtsplanes der Geistlichen Institute in Aachen (191) können die Prozessionswege auch für Ortsunkundige sehr gut nachvollzogen werden.
Die Arbeit von Andreas Möhling eröffnet neue Perspektiven für die interdisziplinäre Erforschung der Liturgie des Aachener Marienstiftes. Damit wird sie ihrem eigenen Anspruch in vorbildlicher Weise gerecht und kann mit Sicherheit als bedeutender Beitrag zur Erforschung der Aachener Liturgiegeschichte gewertet werden. Bei der Betrachtung der "Interdependenz von Kirchenraum und Liturgie" (228) müsste nun aber auch eine theologische Vertiefung des liturgischen Repertoriums erfolgen, wie es der Autor in der Interpretation der Sonntagsprozessionen nach Pfingsten unter Heranziehung der Liturgieerklärung des Rupert von Deutz ansatzhaft tut (222). Der Kirchenraum enthält gerade durch verwendete liturgische Texte eine allegorische Mehrdeutigkeit. Hier werden die Grenzen des historischen Ansatzes deutlich.
Der zusammenfassenden Bemerkung des Autors, dass erst mit einer zukünftigen Edition des Ordinarium de sanctis und der Einbeziehung weiterer liturgischer Quellen ein Gesamtüberblick der überlieferten Liturgie erhalten werden kann (229), ist vollumfänglich zuzustimmen. Es wäre der mehrfach zitierten Bedeutung dieses Kirchengebäudes angemessen.
Matthias Hamann