Christoph Rauhut: Die Praxis der Baustelle um 1900. Das Zürcher Stadthaus, Zürich: Chronos Verlag 2016, 437 S., 63 Farb-, 182 s/w-Abb., ISBN 978-3-0340-1334-5, EUR 62,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
Hans-Erich Volkmann: Die Polenpolitik des Kaiserreichs. Prolog zum Zeitalter der Weltkriege, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2016
Ulrich Raulff: Das letzte Jahrhundert der Pferde. Geschichte einer Trennung, München: C.H.Beck 2015
Henning Albrecht: Antiliberalismus und Antisemitismus. Hermann Wagener und die preußischen Sozialkonservativen 1855 - 1873, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2010
Nur eine einzige Baustelle behandelt das Buch: Das Zürcher Stadthaus, einen städtischen Verwaltungsbau, der um 1900 errichtet wurde. Alles, was irgendwie mit diesem Bau zu tun hat, wird thematisiert: Die Planer, die Architekten, die Baustellenleiter, die Handwerker, Meister, Maurer, Gehilfen, oft Ausländer, die einzelnen Gewerke, Erdarbeiten, Maurerarbeiten, die Baumaterialien, Dachziegel, Dachpappen, Flachmalerei und Dekorationsmalerei, die Baumaschinen, Kniehebelzangen, das Grundwasserproblem, die Streiks, die Glaskuppel, die Haustechnik, Elektrizität, Kanalisation, Zentralheizung usw. usw. usw.
Indes: Das Buch häuft nicht nur an, beschreibt nicht nur. Das allein ist im Übrigen schon ein Verdienst. Denn es erforderte viel Mühe, zu all diesen Aspekten die Quellen heranzuschaffen. Das Buch analysiert vielmehr und das ist seine Stärke. 1900! Das ist die Zeit, da Industrie, Technik und Wissenschaft zu ungeahnten Höhenflügen angesetzt hat. Aber am Bau? Nach einem nicht ganz so seltenen Vorurteil sollte doch dort das sehr traditionell ausgerichtete Handwerk noch dominieren.
Dass dem nicht so ist: Dies darzutun ist ein zentrales Anliegen der Arbeit. Und so erfährt der Leser am konkreten Beispiel des Zürcher Stadthauses, wie sich die Baupraxis zwischen Tradition und der Moderne um 1900 tatsächlich gestaltete. Das Ergebnis: Eine Gleichzeitigkeit von Traditionsverhaftetheit und Einführung von neuen Praktiken, eine Pluralität des Nebeneinander, aber auch des Nacheinander von alten und neuen Techniken, z. B. als weniger moderne Methoden den Grundwassereinbruch nicht mehr beherrschen konnten. Selbst dort, wo man noch vergleichsweise mehr Traditionelles vermutet, z. B. bei den Steinmetz- und Bildhauerarbeiten wird festgestellt, dass auch da Formalisierungen im Herstellungsprozess, eine ausgetüftelte Arbeitsorganisation, Verwissenschaftlichung von Materialprüfung und Konstruktionsberechnungen und damit einhergehend eine zunehmende Etablierung von Standards und staatlichen Nomen auch dieses eher traditionelle Gewerk modern überformten, so dass im Ergebnis schneller, billiger, präziser und nicht zuletzt auch unfallfreier gebaut werden konnte.
Das Fazit all dieser Untersuchungen findet sich dann im Schlusskapitel mit dem treffenden Titel: "Wie sich die Praxis der Baustelle (nicht) veränderte". Da stellt der Autor große Varianzen auf vielen Ebenen fest: Wie einzelne Akteure in die Baustelle eingebunden sind, wie sie bezahlt werden, wie hoch der Grad der Professionalisierung der Beschäftigten ist, welche Produkte verwendet, welche Praktiken ausgeübt, welche Baugeräte eingesetzt wurden. Auf all diesen Feldern gab es Altes und Neues oft nebeneinander und es wurde sehr pragmatisch entschieden, was schließlich zum Einsatz kam, zum Teil sehr stark abhängig von den einzelnen Gewerken und regionalen Gegebenheiten. Hinzu kommen alles übergreifend immer mehr Planungs- und der Steuerungsarbeiten und eine durchgehende Formalisierung und Ökonomisierung.
Die Dissertation ist im Zusammenhang eines Forschungsprojektes an der Professur für Denkmalpflege und Bauforschung der ETH Zürich zur "Verwissenschaftlichung des Bauwissens" entstanden. "Das Projekt untersuchte Überleben und Tradierung handwerklich-vorwissenschaftlicher Baupraktiken und die grossartigen Versuche [...] die alten Bauwissensbestände weiterzuentwickeln." (7) Von daher erklärt sich auch, dass der Bezugsrahmen so gut wie ausschließlich technikgeschichtlich ist. Eine Einbettung in allgemeine geschichtliche Zusammenhänge findet nicht statt und war auch nicht Aufgabe. Jedoch könnte man sich streiten, ob nicht auch kunstgeschichtliche Zusammenhänge hätten thematisiert werden können. Konkret die so sichtbaren vielfältigen Stilmerkmale von Gotik und bürgerstolzer Renaissance an diesem städtischen Bau. Es wäre reizvoll gewesen, wenn man etwas darüber erfahren hätte, welche Überlegungen, welche Planungen, welche konkurrierenden Gesamtentwürfe es gab und wie dazu das Meinungsbild der städtischen Entscheidungsträger oder auch der Öffentlichkeit sich gestaltete - und das genauso verdienstvoll aus den Akten geschöpft wie die Technikausführungen. So handelt das Buch so gut wie ausschließlich von bautechnischer Umsetzung und nicht von den leitenden Überlegungen, die zur Gestalt dieses Baues führten, trotz des gerade auch dort existierenden so sichtbaren Spannungsverhältnisses zwischen Tradition und Moderne. Aber das zu untersuchen wäre vielleicht eher Aufgabe einer Nachbardisziplin. Und wie immer: Die Kunst ist lang.
Mir der Dissertation von Christoph Rauhut hat der Leser eine überaus sorgfältig recherchierte und fundierte Untersuchung darüber, wie sich "Die Praxis der Baustelle um 1900" konkret und in allen Einzelheiten gestaltete. Das Zürcher Stadthaus gibt nur das Beispiel ab. Die Erkenntnisse sind vermutlich repräsentativ für alle Baustellen, sofern es sich nicht um außergewöhnliche handelt, Dombauten z.B. oder technische Meisterwerke, die seit jeher im Fokus des Interesses stehen. Und gerade, dass es sich um einen gewöhnlichen städtischen Verwaltungsbau handelt, wie er überall vorkommt, macht den besonderen Wert des Buches aus.
Manfred Hanisch