Philippe Josserand / Jerzy Pysiak: À la rencontre de l'Autre au Moyen-Âge. In memoriam Jacques Le Goff. Actes des premières Assises franco-polonaises d'histoire médiévale (= Enquetes et Documents du Centre de Recherche en Histoire Internationale et Atlantique; 58), Rennes: Presses Universitaires de Rennes 2017, 244 S., 4 s/w-Abb., ISBN 978-2-7535-5679-9, EUR 23,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Thomas W. Smith (ed.): Authority and Power in the Medieval Church. c. 1000 - c. 1500, Turnhout: Brepols 2020
Tanja Broser: Der päpstliche Briefstil im 13. Jahrhundert. Eine stilistische Analyse der Epistole et dictamina Clementis pape quarti, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2018
Ricoldus de Monte Crucis: Epistole ad Ecclesiam triumphantem. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Martin Michael Bauer, Stuttgart: Anton Hiersemann 2021
Jerzy Pysiak: The King and the Crown of Thorns. Kingship and the Cult of Relics in Capetian France, Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2021
Philippe Josserand / Mathieu Olivier (eds.): La mémoire des origines dans les ordres religieux-militaires au Moyen Age . Actes des journées d'études de Göttingen, Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2012
Der Band ist aus einer Tagung hervorgegangen, die zwar zu Ehren von Jacques Le Goff, aber nicht zu seinem Andenken geplant war. Sein unerwarteter Tod sorgte aber dafür, dass sowohl die Tagung als auch die Veröffentlichung zu einem Akt der memoria wurden. Sowohl inhaltlich als auch wissenschaftsorganisatorisch war das Lebenswerk Le Goffs eine Leitlinie: Der zentrale Gegenstand war ein wiederkehrendes Thema des 2014 verstorbenen Annales-Historikers, nämlich die Erfahrung des 'Anderen' während des Mittelalters. Wissenschaftsorganisatorisch war Jacques Le Goff eine der treibenden Kräfte der französisch-polnischen Kooperation, so dass die Tagung von je fünf HistorikerInnen beider Länder bestritten wurde, die aber nicht alle in den Band eingegangen sind; dafür wurden ergänzend einige Beiträge von HistorikerInnen der Universität Nantes, die in dem genannten Austausch sehr engagiert war und ist, aufgenommen.
Den Auftakt macht eine persönliche Hommage des Le Goff-Schülers Jean-Claude Schmitt (11-15), der anschließend eine kleine wissenschaftshistorische Verortung der französisch-polnischen Kooperation liefert (17-26). Dabei erweist er sich nicht nur als ein (unnötig das zu betonen) überaus kenntnisreicher Mediävist, sondern auch, wie schon Jacques Le Goff, als ein Zeitgenosse, der die Gegenwart mit einem sehr wachen Blick wahrnimmt. Somit ergibt sich aus einem eigentlich als wissenschaftshistorischer Exkurs angelegten Text eine sehr tagesaktuelle Orientierung des Bandes, die an einigen Stellen der Beiträge erneut aufgegriffen wird (z. B. 54). Den eigentlichen Kern des Bandes bilden zehn insgesamt recht kurze Aufsätze. Résumés auf Französisch und Englisch wie auch eine Vorstellung der Autoren beschließen den Band.
Die Kürze der Beiträge führt bisweilen zu einer eher essayistischen Anlage, die manchmal expressis verbis eingeräumt wird (174). Einige stellen (unausgesprochen) eher ein Exposé einer größer anzulegenden Untersuchung dar (etwa der Beitrag zur iberischen Eschatologie des 8. und 9. Jahrhunderts, 35ff.). Das ist angesichts der - vermutlich redaktionell vorgegebenen - Kürze der Beiträge kaum anders möglich gewesen.
Die meisten Beiträge beinhalten mindestens eine kleine Reminiszenz an den Geehrten. Durch die Verneigung gegenüber Jacques Le Goff und das Aufgreifen seines Themas des 'Anderen' ist ein gemeinsamer Überbau gegeben, innerhalb dessen aber sehr breite Freiheiten bestanden: Die Beiträge decken eine chronologische Breite vom beginnenden Mittelalter bis zum 17. Jahrhundert ab, geographisch behandeln sie den Raum von Portugal bis zur byzantinischen Ostgrenze, von Dänemark bis zu den portugiesischen Afrikafahrten. Inhaltlich geht es oftmals um das Wissen über andere Glaubensgemeinschaften, insbesondere das Wissen der Christen über Muslime. Gegenstand sind aber auch - in einem kleinen Abschnitt - urbanistische Erwägungen über Cordoba zu omayyadischer und almohadischer Zeit (79-101), die Entwicklung apokalyptischen Denkens unter Einfluss des Islam (35-51) und die Aufgeschlossenheit gegenüber Mohammed bei europäischen Gelehrten des 17. Jahrhunderts (173-195). Der für die jeweiligen Ausführungen gewählte Ansatz kann etwa die Begriffsgeschichte (bes. 53-78) ebenso wie die Diskursgeschichte (123-147) oder die politische Ordensgeschichte (149-172) sein. Damit ist folgende, leicht irritierende Beobachtung bereits angedeutet: Das 'Andere' wird an keiner Stelle definiert bzw. an keiner Stelle wird umrissen, an welchem Verständnis von dem 'Anderen' sich die Beiträge orientieren würden. Damit folgt jeder Beitrag einem eigenen Verständnis, was den Autoren erlaubt, nach jeglicher Form von Gruppenbildung zu suchen (bes. 79ff.).
Um nur wenige Beispiele herauszugreifen: Der erste Aufsatz (27-34) bietet weniger neue Einblicke, sondern vielmehr einen knappen, aber kenntnisreichen und anregenden Essay zur Einleitung und Orientierung für den Band: Wer ist im Früh- und Hochmittelalter 'anders' und was wusste man darüber? Bei den Ausführungen zu Cordoba bis zur Almohadenzeit geht es - aus muslimischer Perspektive - um religiös andere Gruppen als die herrschende und ihre räumliche Verteilung in der Stadt, aber eben auch um die Position von Frauen, Leprösen und Berbern, die sich in sprachlichen und urbanistischen Phänomenen ausdrücken konnte. Im Beitrag zu den Ritterorden und ihrer grenzsichernden Funktion (149-172) werden nahezu sämtliche Einsatzorte aller wichtigeren Ritterorden auf struktureller Ebene betrachtet. Dabei werden die Hauptfunktionen bzw. die häufig pragmatischen Hauptverhaltensweisen der Orden angesprochen, die immer wieder auch zu Kritik aus Europa und vor allem aus klerikalen Kreisen geführt haben (149ff.) - Kreise, die ein schärferes Vorgehen verlangten. Der Ausdruck des 'Anderen' wird in diesem Beitrag nur eingangs verwendet, im Beitrag zur Wertschätzung Mohammeds bei europäischen Gelehrten der Frühneuzeit (173ff.) kommt das Wort gar nicht vor.
Der abschließende Beitrag (217-228) ist am deutlichsten am Œuvre Jacques Le Goffs orientiert und schreibt gegen die sprichwörtliche Finsternis des Mittelalters an, indem er exemplarisch nachweist, dass die 'seltsamen' Menschen des Mittelalters zwischen fiktionalen Texten über 'Andere' (v. a. der bekannte Brief des Priesterkönigs Johannes) und Augenzeugenberichten (etwa Rubrucks Bericht über seine Reise in die Mongolei) sehr wohl unterschieden; beide Textgattungen erfüllten unterschiedliche Funktionen. Damit bildet der Beitrag einen würdigen Abschluss des Bandes, ohne aber eine Zusammenfassung zu sein.
Was bleibt also von diesem Sammelband? Was die Spezialisten der einzelnen Bereiche an Neuem für ihre Forschungen daraus ziehen können, ist angesichts der Breite der verhandelten Themen kaum zu erwägen. Manches Mal kann man ins Zweifeln kommen, ob die Vieldeutigkeit des Begriffs des 'Anderen' geeignet ist, eine Diskussionsgrundlage zu schaffen, zumindest wenn, wie in diesem Band, kein für die Diskutanden einheitliches Verständnis definiert wird. Somit bleibt nach der Lektüre der Eindruck, einen bunten Strauß von Möglichkeiten, mit Angehörigen anderer (Glaubens-)Gruppen umzugehen, von ihnen zu wissen, sie als Argument zu verwenden, betrachtet zu haben. Dabei wird erneut deutlich, dass vorgefasste Meinungen über eindeutige Konstellationen an Kontaktzonen des lateinisch-christlichen Europas zu anderen Gemeinschaften allzu oft zu historischen Fehlurteilen führen. Das ist - gerade angesichts des 'Patrons' des Bandes - durchaus kein geringes Verdienst, da "Le Goff [...] nichts mehr [liebte], als die Komplexität zu erhöhen, die intellektuellen Einsätze in der Diskussion immer weiter zu steigern [...]". [1]
Anmerkung:
[1] Nils Minkmar: Eigentlich war alles ganz anders. Zum Tod von Jacques Le Goff, in: FAZ 01.04.2014 (http://www.faz.net/-gso-7ny3m, abgerufen am 30.01.2018).
Andreas Kistner