Riccardo Saccenti: Debating Medieval Natural Law. A Survey, Notre Dame, IN: University of Notre Dame Press 2016, XIII + 156 S., ISBN 978-0-268-10040-7, USD 45,00
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Dieses Buch nimmt sich der verdienstvollen Aufgabe an, verschiedene wichtige Strömungen der Rezeption des Naturrechtsdenkens im 20. und 21. Jahrhundert zu ordnen. Gewiss bedürfen die historischen Texte in vielen Fällen einer Erklärung; die modernen Debatten über die Interpretation dieser Texte haben jedoch zum Teil eine Schärfe, die durch unterschiedliche interpretative Auffassungen kaum erklärbar ist, und die Vermutung liegt nahe, dass dies unter anderem in divergenten fundamentalen Überzeugungen der Rezipientinnen über Natur, Funktion und Wirken von Gesellschaft, Staat und Recht begründet ist. Immerhin verbindet sich mit dem Naturrecht eine Frage, die auch die systematischen rechtsphilosophischen Diskussionen und die rechtspolitischen Entwicklungen der Gegenwart - der Autor nennt explizit Hans Kelsen, H. L. A. Hart, Alessandro Passerin d'Entrèves, die Nürnberger Prozesse und die Debatten um die UN-Menschenrechtsdeklaration - prägt. Darüber hinaus schlägt er jedoch vor, solche Überzeugungen im Zusammenspiel mit impliziten geschichtsphilosophischen Überzeugungen über "die Moderne" und ihre Absetzung von bzw. Kontinuität mit dem früheren Denken zu betrachten. Die Frage Saccentis danach, ob die modernen Naturrechts-Historikerinnen in dessen Geschichte radikale Umwälzungen identifizieren, und wie sie diese gegebenenfalls beschreiben, gewinnt vor diesem Hintergrund eine Plastizität, die deutlich über die akademischen Einfriedungen der Philologie und der Wissenschaftsgeschichte hinausgeht.
Um es vorweg zu nehmen: Saccentis Unternehmen macht Sinn und seine Argumente sind überzeugend. Negative Eindrücke verbinden sich hauptsächlich mit der Tatsache, dass weitere historische und aktuelle Diskussionsstränge und auch weitere kontextualisierende Methoden einbezogen werden müssten. Einerseits ist dies gewiss ein größeres Vorhaben und kaum in einem schmalen Buch zu leisten. Andererseits ist das vorliegende Werk tatsächlich etwas arg knapp geraten: Zieht man Vorwort, Endnoten, Bibliografie und Index ab, bleiben gerade 80 Seiten Haupttext übrig, auf denen eher exemplarisch argumentiert wird.
Das erste Kapitel rekonstruiert Michel Villeys Kritik der liberalen Menschenrechtsidee, die auf der These eines grundlegenden Bruchs zwischen der an objektiver Ordnung interessierten mittelalterlichen Tradition einerseits und der mit William of Ockham einsetzenden und die Moderne prägenden nominalistischen Überzeugung andererseits basiert, in der die objektive Ordnung der Natur von den Willensäußerungen der einzelnen Individuen als alleiniger Quelle von Normativität vollkommen verdrängt wird (vgl. 17f.). Das zweite Kapitel konfrontiert Villeys dichotomische Naturrechtsgeschichte mit den Rekonstruktionen Francis Oakleys, Richard Tucks und John Finnis' und reicht damit von den 1960ern bis in die 1980er Jahre. Während Oakley sich von Villey hauptsächlich dadurch absetzt, dass er Ockham in eine größere intellektuelle Umwälzungsbewegung des 14. Jahrhunderts einschreibt, anstatt ihn zum einsamen Revolutionär zu erklären, beschreibt Tuck eine stufenweise Entwicklung des modernen Begriffs subjektiver Rechte von seinen Ursprüngen in der juristischen Tradition des 12. und 13. Jahrhunderts bis zu seiner elaborierten Fassung bei Jean Gerson. Finnis schließlich rekonstruiert die Naturrechtslehre des Thomas von Aquin, die inhaltlich die Unterscheidung zwischen Naturrecht und Naturgesetz am klarsten erlaube. Mit dem dritten und vierten Kapitel schließt Saccenti dann an die Diskussionen der 1990er Jahre bis zur Gegenwart an: Brian Tierney beschreibt eine kontinuierliche Entwicklung rechtstheoretischer Thesen vom 12. bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts, bestreitet aber deren enge Verbindung mit der metaphysischen Überzeugung der Autoren. Diese hätten sich vielmehr pragmatisch aus einem weiten Spektrum von Quellen und Ideen bedient, das in seinem vollen Umfang erst noch erschlossen werden muss. Gegen eine solche bruchlose Geschichte der Naturrechtstheorien führen Autoren wie Cary Nederman und Adam Seagrave die Umwälzungen in Kultur und Wissenschaft des 17. Jahrhunderts an, die es unvorstellbar erscheinen lassen, dass Autoren des 12. und solche des ausgehenden 17. Jahrhunderts unter identischen Begriffen wirklich noch dasselbe Konzept hätten verstehen können. Mit Tierneys Rekonstruktion, ihrer Kritik und ihren Fortschreibungen sind aktuelle Stellungnahmen zur Entwicklung der Naturrechtstheorien (Saccenti nennt unter anderen Annabel Brett und Luca Bianchi) aufgefordert, nicht allein die Kontinuitäten und Brüche differenziert herauszuarbeiten, sondern auch genau zu zeigen, inwiefern die jeweilige Theorie mit den metaphysischen Grundüberzeugungen der Autoren verknüpft ist.
Auf diesen Durchgang folgen zwei abschließende Kapitel, die zum Einen die angesprochenen Themen inhaltlich noch einmal aufnehmen, ordnen und zusammenfassen, und zum Anderen Konklusionen für das rezensierte Buch selbst formulieren. So scheint nach dem beschriebenen Durchgang unabweisbar, dass eine historische Vergewisserung der Entwicklung der modernen Begriffe subjektiver Rechte nicht umhin kann, bis auf mittelalterliche Quellen zurückzugehen, Grenzen wie diejenigen zwischen kanonischem und zivilem Recht, oder zwischen Theologie, Philosophie und Jurisprudenz zu überschreiten und die verschiedenen Linien der Rezeption feinteilig nachzuzeichnen.
Ebenso bedauerlich wie angesichts der Größe der Aufgabe vermutlich unvermeidlich sind Lücken in der Abdeckung der Rezeption des mittelalterlichen Naturrechtsdenkens - für den Rezensenten besonders auffällig die Auslassung von Diskussionen, die sich im Anschluss an die Thomas-Lektüre Wolfgang Kluxens ergeben haben. Andererseits kann Saccenti sehr gut zeigen, wie die zum Teil dramatischen Widersprüche zwischen den Interpretationen der historischen Autoren nur in seltenen Fällen tatsächlichen Fehlern in der Lektüre oder in der Kontextualisierung geschuldet sind, sondern zumeist gleichsam auf unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen beruhen. Außer im Falle Michel Villeys bleibt er jedoch die Profilierung der modernitätstheoretischen und zeitdiagnostischen Vorstellungen der Rezipientinnen des mittelalterlichen Naturrechts schuldig. Der das Buch eröffnende Ausblick auf die Verschränkung von historischer Rekonstruktion, "geschichtsphilosophischer" Überzeugung und rechtspolitischen Präferenzen wird leider nicht wieder aufgegriffen. Methodologisch böten sich dazu durchaus einige vielversprechende Ansätze, indem etwa pragmatische Kontextualisierungen von Texten und Autoren, wie sie im Falle von Tierneys Charakterisierung Ockhams aufschienen, systematisch und eben auch im Hinblick auf die Autorinnen des 20. und 21. Jahrhunderts vorgenommen würden. Unter dem Strich ist zu sagen, dass in dem Buch eine wegweisende Forschungslinie entworfen wird, die in der Durchführung aber leider andeutungshaft bleibt. Es ist zu hoffen, dass der Autor sich der Aufgabe womöglich noch einmal annimmt und seine Ergebnisse weiter ausbaut.
Andreas Wagner