Ferdinand Gregorovius: Europa und die Revolution. Leitartikel 1848-1850, München: C.H.Beck 2017, 463 S., ISBN 978-3-406-70592-2, EUR 48,00
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In Zeiten, in denen historische Zeitschriften- und Zeitungsbestände massenhaft digitalisiert werden, mag eine Buchpublikation, die politische Leitartikel eines ostpreußischen Blattes aus der Mitte des 19. Jahrhunderts abdruckt, auf den ersten Blick anachronistisch anmuten. In der Tat ist das anzuzeigende Unternehmen jedoch ein plausibles und verdienstvolles Unterfangen, weil es sich bei dem Publikationsorgan - der Neuen Königsberger Zeitung - um eine lange Zeit verschollen geglaubte Zeitung und bei dem durch einen Zufallsfund identifizierten Verfasser der Leitartikel um einen aufmerksamen und meinungsfreudigen Zeitbeobachter handelt: um den Historiker und Publizisten Ferdinand Gregorovius, der seit den 1850er Jahren mit seinen Büchern zur antiken und zur italienischen Geschichte wissenschaftliches und literarisches Renommee erwarb.
Hiervon war er allerdings noch ein ganzes Stück weit entfernt, als er im Frühjahr 1848 als Mittzwanziger seine Mitarbeit an der Neuen Königsberger Zeitung begann, einem Unternehmen des jungen Verlegers Adolph Sammet, der auf das Ende der Pressezensur in Preußen bei Ausbruch der Revolution gleich mit mehreren Publikationsneugründungen reagierte. In dem nun rasch wachsenden und sich ausdifferenzierenden politischen Meinungsmarkt positionierte Sammet seine Neue Königsberger Zeitung im linksliberal-demokratischen Spektrum und fand hierfür in Gregorovius einen engagierten Leitartikler, der von Ende Mai 1848 bis Ende Juni 1850 in 92 Beiträgen das revolutionäre und nachrevolutionäre Tagesgeschehen kommentierte. Die Beiträge, zwei bis vier pro Monat, verteilen sich, mit kleineren Unterbrechungen im August 1848 sowie im Februar und April 1850 recht gleichmäßig über diesen Zeitraum und dehnen das Format des Leitartikels auf zwei bis sieben Seiten (im Druck der vorliegenden Edition).
Der Titel der Edition, "Europa und die Revolution", greift die Überschrift des letzten Leitartikels auf und ist auch insofern gut gewählt, als Gregorovius in seinen Beiträgen durchgehend eine weite Perspektive wählt: Die preußische Politik bildet für den Königsberger Leitartikler verständlicherweise einen Schwerpunkt, wird aber immer wieder zu den politischen Vorgängen auf den anderen Revolutionsschauplätzen in Bezug gesetzt. Ungarn, Russland, Italien und Frankreich etwa werden in den Leitartikeln der zweiten Jahreshälfte 1848 eingehend behandelt, während Gregorovius' Interesse an den Verhandlungen der Deutschen Nationalversammlung in diesem Zeitraum eher klein gewesen zu sein scheint - die Frankfurter Septemberunruhen, die das Binnenklima der Arbeiten in der Paulskirche nachhaltig veränderten, werden zum Beispiel nur beiläufig erwähnt. Auch die Leitartikel vom März und April 1849 handeln nicht hauptsächlich vom Reichsgründungsversuch der Deutschen Nationalversammlung, sondern nehmen auch den "Die russische Politik" (11. März) oder "Die Lombardei und Ungarn" (29. März) in den Blick.
Der Kosmopolitismus, der hierin zum Ausdruck kommt, verband sich bei Gregorovius mit deutlichen Sympathien für den linken Flügel der Revolutionäre und das Konzept der Volkssouveränität, ohne dass er jedoch dem Lager der Radikalen zugeordnet werden könnte. In seinem Leitartikel vom 4. Oktober 1848 zum Beispiel distanzierte er sich deutlich von den badischen Radikalen um Gustav Struve, die im Vormonat mit einem republikanischen Putsch gescheitert waren, und stellte ihnen seine Prinzipen entgegen: "Wir aber, Männer der Gegenwart, wollen nicht den fernsten Idealen schwärmerisch und phantastisch, vom Schwindel der Bewegung fortgerissen, nachfliegen, sondern was weise ist und was Noth thut, mit rüstiger Kraft und mit unerschütterlicher Seele erfassen. Nicht im Eigendünkel des Einzelwillens [...] wollen wir den Götz von Berlechingen spielen, sondern, zu aller Freiheit gerüstet, muthig dazu tun, daß unsere Zukunft durch das Gesetz des Nationalwillens seine Gestalt als Gesetz empfange" (69).
In den Versuchen, in seinen Beiträgen das Tagesgeschehen zu deuten und dabei herauszuarbeiten, was jeweils weise ist und was Not tut, muss Gregorovius - dies ist wohl das Schicksal des Leitartiklers zu allen Zeiten - einige Volten schlagen, da die politischen Entwicklungen nicht immer seinen Erwartungen und Prognosen folgten. Besonders augenfällig sind diese in seinen Kommentaren zur preußischen Unionspolitik von 1849/1850, die eine Neuauflage des Reichsgründungsversuchs der Paulskirche unter macht- und obrigkeitsstaatlichen Vorzeichen anstrebte. Deren Ende, das mit der Olmützer Punktation vom November 1850 besiegelt wurde, konnte Gregorovius nicht mehr kommentieren, da die Neue Königsberger Zeitung bereits im Juni 1850 ihre politische Berichterstattung einstellte, nachdem ihr die jüngste preußische Pressegesetzgebung "den Todesstoß gegeben" (289) hatte. In dem aus diesem Anlass verfassten letzten Leitartikel zog Gregorovius eine Revolutionsbilanz, die ihn ungeachtet seiner tagespolitischen Schwankungen als ebenso prinzipienfesten wie scharfsichtigen Zeitanalysten ausweist. Als das, "was die Zukunft wieder fordern muß, weil die Gegenwart es nicht leistete", bezeichnete er dort "die politische Reform in Selbstregierung des Volkes durch wahrhafte Volksvertretung auf dem Grunde allgemeiner Wahlen", die "Vereinigung der Stämme eines getheilten Volkes zur Union" und schließlich in internationaler Perspektive "die nationale Wiederherstellung", namentlich Polens, Italien und Ungarns (288).
Dominik Fugger und Karsten Lorek haben in ihrer Edition die instruktiven und für ein Verständnis der Revolution und ihrer unmittelbaren Nachgeschichte wichtigen Leitartikel Gregorovius' durch eine Einführung und Anmerkungen so ergänzt, dass sie auch über die Grenzen der Fachleserschaft hinaus zugänglich werden. Die Einführung von Fugger "Den Ereignissen einen Sinn geben. Ferdinand Gregorovius und seine Leitartikel für die Neue Königsberger Zeitung" (13-29) mag etwas zu knapp gehalten erscheinen; die Anmerkungen dagegen nehmen beträchtlichen Raum in Anspruch. Warum sie als End- (290-428) und nicht als Fußnoten präsentiert werden, erschließt sich nicht ohne weiteres: Für vermutlich die allermeisten Leserinnen und Leser werden die Anmerkungen nicht bloß Zusatzinformationen liefern, sondern ein unverzichtbares Instrument zum Verständnis der Leitartikel darstellen, das bequem zur Hand liegen und nicht in einem Anhang versteckt werden sollte.
Frank Engehausen