Daniel Watermann: Bürgerliche Netzwerke. Städtisches Vereinswesen als soziale Struktur - Halle im Deutschen Kaiserreich (= Bürgertum. Neue Folge. Studien zur Zivilgesellschaft; Bd. 15), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2017, 365 S., 21 Farbabb., 36 Tabl., ISBN 978-3-525-36853-4, EUR 70,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Am Anfang der neueren Bürgertumsforschung stand eine Hypothese: Staatsfromm, vor politischer Verantwortung zurückschreckend, in seinen oberen Rängen "feudalisiert" habe das Bürgertum im Kaiserreich den verhängnisvollen deutschen Sonderweg besiegelt - eine Auffassung, die im Zuge einer intensiven Diskussion weitgehend ad acta gelegt worden war. In Abgrenzung dazu entdeckte seit den späten 1980er-Jahren die damals noch neue Kulturgeschichte das Bürgertum als ein besonders ertragreiches Forschungsfeld. Nun sollte die Analyse von Situationen, Figurationen und Praktiken, von Symbol- und Deutungssystemen dabei helfen, den "bürgerlichen Wertehimmel" (Manfred Hettling) zu vermessen und erweisen, dass sich das Bürgertum sowohl in seinem "Formwandel" (Klaus Tenfelde) als auch in seinen vielfältigen Ausformungen als "Kultur" - und zwar in Abgrenzung von anderen sozialen Formationen - konzeptionell fassen ließe. Daniel Watermanns Studie, die aus einer Dissertation bei Manfred Hettling hervorgegangen ist, greift die Erträge beider Forschungsrichtungen produktiv auf, beschreitet methodisch jedoch einen ebenso innovativen wie vielversprechenden Weg. Mit den Methoden der Netzwerkanalyse sucht er der Sozialstruktur sowie vielfältigen Binnenbeziehungen, personellen Verflechtungen und Interaktionen des rasch expandierenden Vereinswesens der Universitätsstadt Halle im Kaiserreich auf die Spur zu kommen. Dabei findet er auf alte Fragen - etwa nach dem Bürgertum als Klasse oder nach dem integrativen Potenzial der bürgerlichen (Stadt-)Gesellschaft - anregende Antworten.
Mit beachtlicher Sensibilität für Methodenfragen untersucht der Autor im zweiten Kapitel das semantische Feld des Vereinsbegriffs anhand eines größeren Samples von Adressbüchern unterschiedlicher Provenienz. Dabei kann er zeigen, wie sich der heute geläufige Begriff des Vereins als eines freiwilligen, nicht wirtschaftlichen, weitgehend autonomen und mitgliederorientierten Zusammenschlusses von Bürgern im Kaiserreich gegen eine Vielzahl älterer, teils konkurrierender Konzepte und Bezeichnungen durchsetzte. Indem er im folgenden Kapitel die charakteristischen Merkmale des Vereinswesens nicht normativ fasst, sondern als Spannungsfelder etwa zwischen Freiwilligkeit und Zwang, Selbststeuerung und Regulierung, Öffentlichkeit und Binnenorientierung entfaltet, entwickelt Watermann eine plausible Erklärung für die verblüffende Vielfalt und Flexibilität des Vereins als sozialer Struktur und ein historisches Argument gegen vorschnelle normative Überhöhungen: Vereine seien viel eher "Schulen der Organisation" als "Schulen der Demokratie" (104), so sein Resümee.
Im vierten Kapitel skizziert Daniel Watermann in einem strukturgeschichtlichen Zugriff zunächst die demografische Entwicklung der Kommune, den Übergang zum Industrie- und Dienstleistungsstandort sowie den fundamentalen Wandel der städtischen Sozialstruktur im Zeichen der Hochindustrialisierung, die nicht nur einen immensen Handlungsdruck im Bereich der kommunalen Daseinsvorsorge, sondern auch einen gewaltigen, bis 1914 anhaltenden Boom an Vereinsgründungen auslöste. Daran schließen sich differenzierte, gut begründete Überlegungen an zu Zwecksetzungen und Lebensdauer der Vereine sowie zur verblüffenden Beständigkeit aller Vereinstypen: Das Vereinswesen bildete eine Konstante gesellschaftlicher Selbstorganisation; dies gilt auch für die sozialen und wohltätigen Vereine, deren Aktivitäten die aufkommende kommunale und staatliche Sozialverwaltung keineswegs absorbierte. Die Sozialstruktur der Vereine war, so ein wenig überraschender Befund, bestimmt durch Klassenzugehörigkeit, Einkommen und Geschlecht, wobei der Grad sozialer Exklusivität je Vereinstyp sehr unterschiedlich ausfallen konnte. Dabei erfährt man Aufschlussreiches etwa über den Hausbesitzerverein, der, bestens in der städtischen Vereinslandschaft vernetzt, entlang der Kategorie Hausbesitz ein politisches Interesse artikulierte, das quer lag zu den ansonsten eher disparaten Klasseninteressen der im Verein organisierten Personen. Das Engagement von Frauen in den Vereinsvorständen hat bis zum Ende des Untersuchungszeitraums auf niedrigem Niveau signifikant zugenommen, vor allem seit der Jahrhundertwende, was der Autor als relativen Erfolg wertet.
Der - im doppelten Sinn - hohe Anspruch der Arbeit zeigt sich in ihrem Ziel, einem zentralen Strukturprinzip der bürgerlichen Gesellschaft mit dem Werkzeug der Netzwerkanalyse empirisch auf die Spur zu kommen. Dieses Prinzip besteht in der emergenten, d.h. ungesteuerten Vernetzung ihrer Mitglieder sowohl innerhalb von wie zwischen Vereinen, in Beziehungen also, die auf soziale Schätzung und gegenseitige Anerkennung gegründet sind. Durch personelle Vernetzung werden dauerhafte Kommunikation, soziale Ressourcen, Handlungsoptionen und persönlicher Nutzen generiert, was für die maßgeblichen Träger des städtischen Vereinsnetzes mit erheblicher Machtfülle verbunden ist. Bei der Analyse dieses Prozesses beschränkt sich der Autor auf die Vereinsvorstände, an denen er auf Grundlage der Halleschen Adressbücher entlang der Stichjahre 1874, 1888, 1895, 1903 und 1913 die Muster personeller Verflechtungen und Ausdifferenzierung innerhalb des rasant expandierenden Vereinswesens der Saalestadt entschlüsselt. Der in zahlreichen Netzwerkkarten veranschaulichte Befund lautet: Während sich über die Jahre im Hauptnetzwerk eine zunehmende Verflechtung und Konnektivität feststellen lässt, lagerte sich währenddessen an der Peripherie eine wachsende Zahl von Vereinen an, die wenig oder gar nicht mit anderen verbunden waren. Dabei wird deutlich, dass wirtschaftliche, gesellige, Freizeit- und Sportvereine zwar zahlenmäßig überproportional zugenommen haben, der Verflechtungsdichte, die im Wesentlichen von den sozialen und religiösen Vereinen bestimmt wurde, aber eher abträglich waren. Soziale und wohltätige Vereine, in denen Bildungsbürger, Wirtschaftsbürger und höheres Beamtentum besonders häufig in Kontakt traten, bildeten, so ein weiteres Ergebnis, den "'Kitt' des Bürgertums" (232) und darüber hinaus einen "höchst integrativen Bezugspunkt" (269) der gesellschaftlichen Gesamtstruktur. Neben den eher exklusiven, entlang von Berufs- und Standesinteressen agierenden wirtschaftlichen Vereinen zeigten vor allem die Kriegervereine ein besonderes sozialstrukturelles Profil, denn sie bildeten für Angehörige des niederen Bürgertums und der Unterschichten, denen der Zugang zum bürgerlichen Vereinswesen sonst verwehrt war, ein Kontaktfeld: "Der Status als 'Krieger' oder vormaliger Soldat führte in diesen Vereinen offenbar zu einem egalitären Denken, durch das sich die Akzeptanz von Angehörigen der Unterschichten als Vereinsvorstände erklären lässt" (256).
Der Ertrag von Daniel Watermanns Studie ist beachtlich: Erstens leistet sie einen Beitrag zur historischen Semantik eines bedeutenden politisch-sozialen Ordnungsbegriffs. Zweitens vertieft sie nicht nur unsere Kenntnisse zur sozialen Klassenbildung im Kaiserreich, sondern rückt sie über die eingehende Analyse von Beziehungsstrukturen zugleich in ein neues Licht. Drittens präzisiert sie auf eindrückliche Weise unser Verständnis von Bürgerlichkeit im Spannungsfeld von Klasseninteressen und Gemeinwohlorientierung, soziokultureller Hegemonie und gesellschaftlicher Integration, und sie lässt sich nebenbei als Warnung vor einem überzogen normativen Begriff von Zivilgesellschaft in der aktuellen Debatte lesen. Vor allem aber demonstriert sie in ihrer sorgfältigen und überzeugenden Argumentation die Fruchtbarkeit und Grenzen eines innovativen Forschungsansatzes. Das ist eine Menge.
Thomas Hertfelder