Anna-Brigitte Schlittler / Katharina Tietze (Hgg.): Über Schuhe. Zur Geschichte und Theorie der Fußbekleidung (= Fashion Studies; Bd. 6), Bielefeld: transcript 2016, 230 S., ISBN 978-3-8376-3430-3, EUR 29,99
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"Anständige Schuhe und Strümpfe", so ein Benimmratgeber der 1950er-Jahre, "sind für den Gesamteindruck eines Menschen wichtiger als ein neues Kleid mehr im Schrank". [1] Seitdem die Schuhe in den 1920er-Jahren zum Modeartikel geworden waren, sollten auch sie Geschmack, Stil oder Solidität beweisen. Beim Damenschuh lag das mit an den neuen, kürzeren Rocklängen. Nicht zuletzt aber setzte sich jetzt die industrielle Produktion durch, die Schuhe wurden zu einem Produkt des Welthandels.
Der deutschsprachigen Forschung gilt die (Schuh-)Mode noch immer "kaum als seriöses Feld für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung". [2] Im angloamerikanischen Raum hingegen ist die Beschäftigung mit der Mode etabliert. Geschätzt wird, dass sie die Kultur-, Konsum- wie Geschlechtergeschichte erhellt und Zugänge zu politischen wie ökonomischen Fragen bietet. In der Literatur zur Geschichte der Schuhe dominieren gleichwohl Überblickswerke und -kataloge, vielfach auch Streiflichter bietende Texte.
Der vorliegende Band betrachtet vorrangig "alltägliche", von breiten Schichten getragene Schuhe der 1930er- und 1940er-Jahre. Es geht um ihre Produktion, Materialien und das Design, Kontroversen über die Schuhmode, gesundheitlich-hygienische und ökonomische Aspekte. Der Schwerpunkt liegt auf der Schweiz. Eine Reihe von Beiträgen stellt das Unternehmen Bally und seine Produkte in den Mittelpunkt, ohne freilich eine Unternehmensgeschichte bieten zu wollen.
Der "Primus der schweizerischen Schuhwirtschaft" (116) trieb wie sein tschechischer Konkurrent Bata die Standardisierung der europäischen Schuhproduktion voran. Dabei wurden bereits in der Zwischenkriegszeit neben Leder diverse Materialien verarbeitet, so Kork, Holz oder Fischhäute. Es ging um wirtschaftliche Autarkie. Der Materialmangel im Zweiten Weltkrieg verstärkte diese Entwicklung (Kerstin Kraft sowie Anna-Brigitte Schlittler).
Nicht nur Schlittler, die sich dem Design der Bally-Schuhe widmet, fragt auch danach, inwieweit nationale Ideen den schweizerischen Schuhmarkt im Untersuchungszeitraum beeinflussten. Wurden die Schuhe zum Element der "Geistigen Landesverteidigung", die das genuin Schweizerische suchte? Bally betonte die "Internationalität der Mode" (88f.) und suchte zugleich Bata als fremdartig zu diskreditieren, wie Tobias Ehrenbold deutlich macht. Der Hintergrund war vor allem ein ökonomischer: Bata setzte die europäischen Produzenten durch seine Niedrigpreispolitik massiv unter Druck. In Deutschland führte dies vorübergehend zur Anhebung der Einfuhrzölle [3]; die eidgenössischen Schuhverbände organisierten einen Boykott Batas. Das Unternehmen änderte daraufhin die Schreibweise des Firmennamens (von Bat'a in Bata) und präsentierte sich - weil es selbst in der Schweiz produzierte - als schweizerisches Unternehmen.
Die Konkurrenz im Handel, die Entwicklung der einheimischen Gewerbe und Industrien waren nicht zuletzt ein politisches Thema. Diese Geschichte des Schuhs als politisches Objekt noch intensiver zu verfolgen, hätte sich wohl gelohnt. Nicht zuletzt hat Anne Sudrow anhand von Schuhen eindrücklich gezeigt, dass "Alltagsgegenstände eine politische Geschichte haben" können. [4]
Hinter den Bestrebungen nach einer Schuhreform standen ebenfalls teils politische Interessen. Die schweizerische Armee suchte auf diesem Weg die Einsatzfähigkeit der Soldaten zu sichern, so Daniel Späti (der Gebrauchsschuhe untersucht) und Nike U. Breyer. Letztere belegt zudem, wie sich diese Intention mit Interessen der Schuhmacherzunft und gesundheitspolitischen Anliegen überschnitt.
Eine vergleichbare Überlagerung von Motiven macht Roman Wild in einem vielschichtigen Beitrag über schweizerische Schuhmoden-Debatten (1920-1950) deutlich. Während beispielsweise die Frauenbewegung den Modeschuh als "'Verschwendung'" gegeißelt habe (119), wollten die Behörden den Schuhmarkt aus volkswirtschaftlichen Gründen wie aus Sorge vor sozialen Konflikten durch den Modekonsum regulieren. Schließlich habe es während des Zweiten Weltkrieges, der für viele Schweizer eine deutliche Einschränkung ihrer Konsummöglichkeiten bedeutete, auch Kritik am (angeblichen) Luxuskonsum gegeben. Hier werden offensichtlich Motive der älteren Luxuskritik greifbar.
Der Band führt ebenfalls die Theorie im Titel. Sie hat indes nachgeordnete Bedeutung. Wild bezieht sich auf die Materielle Kulturforschung, andere greifen Fragen der Technik- oder der Konsumgeschichte auf, die Einleitung spricht vom gemeinsamen praxeologischen Zugang. Die theoretisch orientierten Beiträge von Gertrud Lehnert und Christopher Breward stehen allerdings weitgehend unverbunden im Band.
Lehnert, die die historische Wandelbarkeit von Luxuskonzepten betont, stellt Kriterien zur Definition von Luxus auf. Die Anwendung auf andere Beiträge muss jedoch weitgehend vom Leser geleistet werden. Explizite Luxusprodukte sind mehrfach Thema: Reptillederschuhe, die ihre Trägerinnen zugleich zur "Femme fatale" gemacht hätten (Birgit Haase), die Modelle des später mit Christian Dior zusammenarbeitenden Designers Roger Vivier (Rosita Nenno) sowie von Bally für den US-amerikanischen Markt produzierte Luxusschuhe (Tietze). In weiteren Aufsätzen finden sich gleichfalls Überlegungen zur Bedeutung von Diskursen, kulturellen Praktiken und Vermarktungsstrategien.
Brewards Text zum Herrenschuh als Objekt der Moderne, bereits 2006 publiziert, erscheint hier in Übersetzung. Der klassische Herrenschuh hatte ihm zufolge gerade deshalb andauernden Erfolg, weil er keine raschen Modewandlungen mitmachte und Kontinuität zu verbürgen schien. Breward setzt dies in Verbindung mit den Modernismuskonzepten der Architekten Le Corbusier und Adolf Loos. Der Beitrag besticht durch pointierte Zitate und anregungsreiche Verknüpfungen, vom Dandytum, Misogynie und industrieller Produktion bis zum Sexuellen. Manches verbleibt jedoch hier im Assoziativen oder mehr Geraune, so wenn der Schuh zur "obskure[n] Kombination" seiner Materialien wird (204).
Die Einleitung hätte sich angeboten, um die im Buch angesprochenen Entwicklungen deutlicher zusammenzuführen und zu kontextualisieren. Eine Kleinigkeit ist das Fehlen von Text zwischen den Seiten 86 und 87. Gut ist der Band nicht zuletzt immer dann, wenn eine Verbindung zu den Diskussionen über Medizin und Hygiene, Konsum(kritik) und Gewerbeförderung geleistet wird. Eine Reihe von Aufsätzen überzeugt dabei durch die aufschlussreiche Verbindung unterschiedlicher Quellenarten, beispielsweise eines Werbefilms, statistischer Daten der Schweizer Preisbildungskommission, von Firmenarchivmaterial und zeitgenössischen Schriften zur Mode bei Wild. Immer wieder wird der Wandel von Lebensformen, Körperbildern und Alltagskultur sichtbar - auch anhand des Sneakers, der auf den Trend zu körperlicher Aktivität reagierte (Ehrenbold), oder der Sandalen, mit denen Frauen nun am Abend wie am Strand die Zehen zeigen konnten (Tietze). Es wird so erkenntlich, wie Schuhe zum Zeichen von Modernität und unterschiedlicher Lebensstile werden konnten.
Anmerkungen:
[1] Gertrud Oheim: Einmaleins des guten Tons, Gütersloh 1955, 86.
[2] Gabriele Mentges: Die Angst der Forscher vor der Mode oder das Dilemma einer Modeforschung im deutschsprachigen Raum, in: dies. / Gudrun M. König / Michael R. Müller (Hgg.): Die Wissenschaften der Mode, Bielefeld 2015, 27-47, hier 27.
[3] Vgl. auch Michael Wagner: Die Firma BATA und der deutsche Schuhmarkt in den zwanziger Jahren, in: ders. / Willi Schächter (Hgg.): Vom Zunfthandwerk zum modernen Industriebetrieb. Schuhe und Schuhherstellung in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert, Hauenstein 1998, 79-102.
[4] Anne Sudrow: Der Schuh im Nationalsozialismus. Eine Produktgeschichte im deutsch-britisch-amerikanischen Vergleich, Göttingen 2010, 12. Zur (versuchten) Indienstnahme der Mode im Nationalsozialismus vgl. auch Isabella Belting: "Gretchen mag's mondän!" Damenmode der 1930er Jahre, Katalog, München 2015.
Astrid Ackermann