Detlev Brunner / Michaela Kuhnhenne / Hartmut Simon (Hgg.): Gewerkschaften im deutschen Einheitsprozess. Möglichkeiten und Grenzen in Zeiten der Transformation (= Forschung aus der Hans-Böckler-Stiftung; Bd. 192), Bielefeld: transcript 2018, 182 S., ISBN 978-3-8376-4219-3, EUR 19,99
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Detlev Brunner / Christian Hall: Revolution, Umbruch, Neuaufbau. Erinnerungen gewerkschaftlicher Zeitzeugen der DDR, Berlin: BeBra Verlag 2014
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Zwei desillusioniert wirkende (entlassene?) Industriearbeiter ragen aus einer Menschenmenge heraus. Darin ist ein Schild der IG Metall zu sehen, auf dem steht: "Sanieren statt planieren". Dieses Foto, das zugleich das Cover des Bandes ziert, steht symbolisch für die öffentliche Wahrnehmung der Gewerkschaften im deutschen Einheitsprozess. Dabei überlagern sich zwei miteinander verbundene Narrative. Das eine bezieht sich unmittelbar auf den Transformationsprozess der ostdeutschen Wirtschaft und stellt die Gewerkschaften als Gegner der Privatisierungspolitik der Treuhandanstalt heraus. Das zweite rekurriert auf einen längeren Prozess der Erosion gewerkschaftlicher Organisationsmacht infolge des "Strukturwandels" seit den 1970er Jahren, visualisiert durch den als schmerzlich empfundenen Niedergang der weißen männlichen Industriearbeiterschaft. Obwohl die visuelle Kultur der Transformationszeit nach 1990 nicht explizit thematisiert wird, schwingen beide Narrative in den Beiträgen des Bandes stets mit. Aus gewerkschaftlicher Perspektive ist der Prozess der Einheit vor allem eine Verlustgeschichte. Die historische Forschung zu dieser Thematik hat erst begonnen. Dem vorliegenden Sammelband kommt das Verdienst zu, erste Schneisen in diese Terra incognita zu schlagen, die bislang vor allem ein Feld sozialwissenschaftlicher Forschung war.
Hierzu versammelt der Band historische und sozialwissenschaftliche Analysen sowie Stimmen ehemaliger gewerkschaftlicher Akteure. Damit gelingt es, ein multiperspektivisches und interdisziplinäres Bild über gewerkschaftliche Erfahrungs- und Handlungsräume in der Transformation Ostdeutschlands zu zeichnen. Die (sachthematische) Anordnung der Beiträge erschließt sich für Leserinnen und Leser jedoch erst auf den zweiten Blick. Hier hätten Zwischenüberschriften mehr Struktur schaffen können. Wenig nachvollziehbar ist indes, warum der instruktive Forschungsüberblick von Detlev Brunner nicht am Beginn des Bandes, sondern in der Mitte zu finden ist.
Die Themen gewerkschaftliche Organisation, Treuhandanstalt und Tarifpolitik werden jeweils durch zwei Beiträge, einen wissenschaftlichen Aufsatz und einen Zeitzeugenbericht, abgedeckt. Dabei gelingt es trotz des dürftigen Forschungsstandes, komplementäre Perspektiven miteinander zu verbinden, was sich für künftige Forschungen als anregende Lektüre erweist.
Einen Aspekt der Vorgeschichte des Einheitsprozesses aus gewerkschaftsgeschichtlicher Perspektive untersucht Stefan Müller anhand der Gespräche zwischen ost- und westdeutschen Gewerkschaftsvertretern seit 1972. Dabei zeigt er, dass diese Treffen eher von Distanz geprägt waren und auf westdeutscher Seite vor allem der Stabilisierung der Zweistaatlichkeit dienten, aber keine gewerkschaftliche Außenpolitik markierten. Entsprechend kühl gestaltete sich das Verhältnis im Jahr 1990.
Dem Aufbau gewerkschaftlicher Strukturen widmen sich Renate Hürtgen, die aus der doppelten Perspektive als Historikerin und ostdeutsche Zeitzeugin schreibt, und Wolfgang Uellenberg-van Dawen, der als Referatsleiter in der DGB-Bundesvorstandsverwaltung die Vorgänge aus Düsseldorfer Distanz beobachtete und mitgestaltete. Hürtgen untersucht das Scheitern der betrieblichen Basisbewegungen in der DDR, die sich als Alternative zu den diskreditierten Ost-Gewerkschaften zu etablieren versuchten, aber ebenso auf Distanz zu den Bürgerbewegungen blieben und sich gegen die Attraktivität der West-Gewerkschaften nicht durchsetzen konnten. Uellenberg-van Dawen berichtet dagegen (durchaus selbstkritisch) über die Unsicherheit innerhalb des DGB und den starken Zeitdruck des Jahres 1990, weshalb das Primat der Organisationsstabilität beim Aufbau gewerkschaftlicher Strukturen in Ostdeutschland über das der demokratischen Erneuerung und der Ökonomie gesiegt habe.
Die gewerkschaftliche Handlungsmacht gegenüber der Treuhandanstalt wird in den Blick genommen durch den Historiker Marcus Böick und den ehemaligen Vorsitzenden der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft Roland Issen, der zugleich als einer von vier Gewerkschaftsvertretern im Verwaltungsrat der Treuhandanstalt saß. Böick verweist auf das ständige Oszillieren der Gewerkschaften zwischen Kooperation und Konfrontation, was es ebenso zu untersuchen gelte wie die alltagsgeschichtliche Dimension der betrieblichen Beziehungen. Issens Beitrag bleibt auf den ersten Blick sehr an Formalien und den Ergebnissen gewerkschaftlicher Einflussmöglichkeiten (z.B. Vereinbarungen über Sozialpläne) orientiert. Zwischen den Zeilen lässt sich aber herauslesen, dass sich das Verhältnis zwischen ihm und dem Verwaltungsrat weniger konfliktbehaftet gestaltete als in der zeitgenössischen öffentlichen Wahrnehmung oft dargestellt. Dafür spricht, dass er Fehlentwicklungen bei der Privatisierung nicht der Treuhandanstalt, sondern der Bundesregierung anlastet.
Der Tarifpolitik als klassischem gewerkschaftlichem Handlungsfeld widmen sich die Soziologin Ingrid Artus und der ehemalige IG-Metaller Lothar Wentzel, der (anders als Uellenberg-van Dawen und Issen) das Geschehen als Streikorganisator in Wismar hautnah miterleben konnte. Dabei machen beide Beiträge auf die Kontroverse um den Stufentarifvertrag der IG Metall aufmerksam, für dessen Durchsetzung die IG Metall Härtefallklauseln akzeptieren musste. Während Artus Ostdeutschland diesbezüglich als tarifpolitische "Labormaus des Westens" sieht, die einer "Verbetrieblichung" der industriellen Beziehungen Vorschub geleistet habe, und damit auch auf Rückkopplungseffekte von Ost nach West verweist, verteidigt Wentzel das Handeln der IG Metall. Zudem kritisiert er die ostdeutsche Arbeitnehmerschaft für ihre geringe Mobilisierungsfähigkeit und abwartende Haltung auf Lösungen "von oben".
Insgesamt bieten die Beiträge des Bandes jeweils interessante Einblicke in ein historisch bislang kaum bestelltes Feld. Da sie aber sehr spezifische Aspekte streifen und aus unterschiedlichen Perspektiven argumentieren, wäre es vorteilhaft gewesen, wenn die Herausgeberin und ihre beiden Mitherausgeber die Beiträge zusammengebunden und auf Perspektiven für die weitere Forschung verwiesen hätten. Denn die Beiträge offenbaren häufig mehr Forschungslücken, als dass sie diese selbst schließen - was keineswegs als Defizit zu werten ist. So teilen alle Beiträge das Problem, dass sie innergewerkschaftliche Organisationsdebatten und -kulturen, traditionelle gewerkschaftliche Handlungsfelder (Tarifpolitik) und die besonderen Herausforderungen der Transformation (Treuhandanstalt) methodisch nicht zusammendenken, sondern unabhängig voneinander behandeln. Dadurch geraten die Wechselwirkungen zwischen diesen Prozessen aus dem Blick. Zudem sind Stimmen ostdeutscher bzw. lokaler Gewerkschaftsfunktionäre noch immer unterrepräsentiert. Dagegen werden Gewerkschaften häufig auf die führenden (westdeutschen) Figuren und Vorstandsverwaltungen reduziert, was überdies auch ein Problem der älteren sozialwissenschaftlichen Forschung ist, die es ebenso zu historisieren gilt. Schließlich sollten auch die längeren Linien des "Strukturwandels" als gewerkschaftlicher Erfahrungshorizont nicht aus dem Blick geraten.
Insgesamt aber zeigt der Band, gerade weil die Beiträge teils explizit, teils implizit neue Forschungsfragen aufwerfen, welch großes Potential in dem adressierten Themenfeld steckt. Künftige Studien finden hier ein weites Arsenal an Ansatzpunkten und Fragestellungen.
Christian Rau