Ronen Bergmann: Der Schattenkrieg. Israel und die geheimen Tötungskommandos des Mossad, 3. Auflage, München: DVA 2018, 864 S., 53 Farbabb., ISBN 978-3-421-04596-6, EUR 36,00
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Welche Rolle spielt die Politik der "gezielten Tötung" in Israels Sicherheitspolitik? Ronen Bergman, Investigativ-Reporter der israelischen Tageszeitung Yedioth Ahronoth, gibt eine erschreckende Antwort. Er hebt in seinem Buch die folgenschwere, ja verheerende Bedeutung dieser nicht nur vom israelischen Auslandsgeheimdienst durchgeführten Morde hervor - sowohl für Politik und politische Kultur des jüdischen Staates als auch für die Geschichte des israelisch-arabischen Konflikts beziehungsweise für Israels Kampf gegen die Palästinenser. Auf der Basis zahlreicher Interviews und tausender zum Teil geheimer Dokumente will Bergman eine kritische Geschichte der israelischen Geheimdienste erzählen. Das gelingt ihm jedoch nur bedingt. Seine Darstellung bleibt nämlich dem Israel-spezifischen, sicherheitspolitisch-orientierten, die Tötungspraxis rechtfertigenden Diskurs verhaftet, auch wenn hie und da auf seine Problematik hingewiesen wird. Bergmann zitiert dazu auch eingangs das babylonisch-talmudische Prinzip der Selbstverteidigung: "Wenn jemand kommt, dich zu töten, steh auf und töte ihn zuerst." Damit untermauert er gewissermaßen die moralische Rechtfertigung für die umstrittene Praxis der Tötung ohne Gerichtsverfahren.
In 35 Kapiteln geht der Journalist auf die Tötungen ein. Sehr ausführlich werden Hintergrund, Verlauf und Ausgang beschrieben - eine detailorientierte, klassische Ereignisgeschichte. Historischer Kontext ebenso wie die Deutung dieser Politik, mithin die weitreichenden Auswirkungen dieser Morde, sind wenig relevant. Vielmehr liest sich jedes Kapitel wie ein Kriminalroman. Doch gerade weil es von wirklichen Mordgeschichten handelt, ergibt sich in der Summe eine äußerst frustrierende Konflikt-, Politik- und auch Militärgeschichte Israels, das immer wieder dazu verdammt scheint, seine im Kern politische Krisenlage ausschließlich als militärisch-operativ zu begreifen. Die Konsequenz - so eine Lesart dieses fulminanten Buches - ist die Verfestigung, schließlich die Etablierung der gezielten Tötung als unabdingbarer Bestandteil der eigenen Sicherheitsdoktrin.
Die Geschichte beginnt in den 1920er, 1930er und 1940er Jahren, als das zionistische Projekt in seinen Anfängen stand. Meist waren die Opfer der zionistischen Milizen in Palästina Vertreter der britischen Mandatsmacht. Doch auch jüdische Opfer waren dabei: 1924 ließ die halblegale Miliz Hagana etwa einen orthodoxen Juden namens Jacob De-Hann wegen antizionistischer Agitation ermorden. In der sicherheitspolitisch instabilen Gründungszeit der 1950er und 1960er Jahre galten gezielte Tötungen ehemaligen Nazis, dem Erzfeind Ägypten und seinen Verbündeten in der arabischen Welt, vor allem aber deutschen Wissenschaftlern, die halfen, Ägyptens Militär aufzurüsten. In den 1970er und 1980er Jahren dominierte der israelische Kampf gegen den palästinensischen Terrorismus: In Jordanien, im Libanon, in Tunis, in europäischen Ländern sowie im Westjordanland und im Gazastreifen ging Israel gegen palästinensische Führer vor: der Mossad im Ausland, der Shin-Bet im Inland sowie das israelische Militär führten erbitterte Kämpfe und töteten palästinensische Persönlichkeiten.
Bergmans detaillierte Beschreibung der unzähligen Versuche, Jassir Arafat, den Gründer und Chef der Palestine Liberation Organisation (PLO), zu töten, macht deutlich, was Israels Entpolitisierung des Konflikts um Palästina bedeutet: Über Jahrzehnte, mit gewaltigem militärischen und operativen Aufwand versuchte Israel, das Symbol des palästinensischen Volkes physisch zu liquideren, und zwar in der felsenfesten Überzeugung, das würde in irgendeiner Form die Palästina-Frage lösen. Für das sicherheitspolitische sowie für das politische Establishment blieb diese Frage allerdings eine Palästinenser-Frage und wurde über die Jahre hinweg als ausschließlich militärisch-operative Angelegenheit begriffen. Erst 1993, nach der gegenseitigen Anerkennung von Israel und PLO, war ein politischer Prozess möglich. Die Erste Intifada zwischen 1987 und 1992 führte zu der Entscheidung, Jassir Arafat in einen politischen Prozess einzubinden, um die Unruhen unter Kontrolle zu bekommen. Dies führte freilich zu einer heftigen innenpolitischen Debatte über die Legitimität der Anerkennung eines "Terroristen", weshalb die Tötung von Jassir Arafat mit dem Ausbruch der Zweiten Intifada im Jahr 2000 wieder auf Israels Tagesordnung kam. In den 1990er Jahren standen vor allem Vertreter der sunnitisch-religiösen Hamas und der schiitischen Hisbollah im Visier der israelischen Sicherheitsbehörden. Die Regierungen Itzhak Shamir, Itzhak Rabin, Shimon Peres, Benjamin Netanjahu und Ehud Barak genehmigten routinemäßig die Tötung Einzelner aus den genannten Organisationen.
Die Praxis der gezielten Tötung erwies sich auch sicherheitspolitisch als äußerst kontraproduktiv. Der 1997 gescheiterte Versuch, den Hamas-Mann Chalad Maschal in Amman zu töten, hatte ähnlich wie der gelungene Anschlag auf den Hamas-Bombenbauer Jahja Ajasch verheerende Konsequenzen für den Friedensprozess. Beide Vorfälle verschärften die ohnehin labile Lage im Land: Die Affäre Maschal endete damit, dass Jordanien Israel nicht nur gezwungen hatte, dem Opfer ein Gegengift zu verabreichen und so sein Leben zu retten. König Hussein war auch nur bereit, das in Jordanien festgenommene Mordkommando des Mossad freizulassen, wenn Israel Männer wie den Gründer und geistlichen Führer der Hamas, Scheich Ahmed Jassin, auf freien Fuß setzte. Jassins Freilassung und Maschals Rettung stärkte die Hamas und damit die Gegner von Verhandlungen mit Israel. Aber auch Ajaschs gelungene Tötung hatte negative Auswirkungen auf den Friedensprozess: Sein Nachfolger, Mohammed Diab al-Masri, rächte Ajaschs Liquidierung mit drei Attentaten, denen binnen weniger Wochen rund 60 Israelis zum Opfer fielen. Im Frühjahr 1996 erlitt der politische Prozess einen schweren Rückschlag - bis er im Oktober 2000 endgültig scheiterte. Israels verzweifelte Versuche, gegen die Hamas und die Hisbollah mit raffinierten, stillen Tötungen vorzugehen, endeten mit dem einseitigen Rückzug aus dem Libanon im Mai 2000 und mit dem Ausbruch der Zweiten Intifada einige Monate später. Sehr bald wurden auch Vertreter der Palästinensischen Autonomiebehörde, einschließlich Jassir Arafat, zu legitimen Zielen.
Kurz nach der Jahrtausendwende kam es laut Bergmann zu einer Zäsur: "Vor der [Zweiten] Intifada waren gezielte Tötungen in erster Linie die geheime Sache kleiner, abgeschotteter Teams gewesen, die für den Mossad arbeiteten, jenseits der Grenzen des Landes. Sie wurden wohl im nationalen Interesse durchgeführt, aber jede moralische Rechtfertigung beschränkte sich auf eine Handvoll Mitarbeiter und Minister. Sobald sich diese überschaubaren Operationen zu einem groß angelegten Tötungsapparat ausweiteten, wurden jedoch Tausende von Menschen zu Komplizen. Soldaten und Flieger, Schin-Bet-Leute, die Sachbearbeiter, die Informationen sammelten, filterten, analysierten und weitergaben - sie alle waren direkt daran beteiligt, häufig in wichtigeren Funktionen als jene, die tatsächlich die Tötung vollstreckten. Und im Sommer 2002 konnte kein Israeli behaupten, er habe nichts von dem gewusst, was in seinem Namen geschah." (618f.)
Mit den bis 2003 durchgeführten 344 Mordanschlägen erreichte der Kampf eine neue Dimension. Israel konnte diese Morde nicht mehr abstreiten - und bemühte sich auch kaum darum. Denn der im Oktober 2000 ausgebrochene "Totale Krieg" (569) war eine blutige Auseinandersetzung mit einer wachsenden Zahl von palästinensischen Selbstmord-Attentätern, die knapp tausend Israelis töteten und die Städte Israels in Angst und Schrecken versetzten. Armee und Inlandsgeheimdienst waren zwar anfangs überrascht, nahmen aber bald den Kampf auf und gingen ohne Rücksicht auf Verluste gegen die Palästinenser vor. Erst im Sommer 2002 nach der Ermordung eines Hamas-Führers mitten in einem dichtbebauten Wohnviertel Gazas entbrannte in Israel eine Debatte über Sinn und Zweck der Tötungen - und der damit verbundenen Kollateralschäden. Bergman beschreibt die Proteste unter Reservepiloten, in der Eliteeinheit Sajeret Matkal, und den "Aufstand in Einheit 8200". Da 2002 die Intifada noch in vollem Gange war, marginalisierten die Sicherheitsbehörden diese Proteste schnell und nahmen den Gaza-Streifen und die Hamas-Führer noch massiver ins Visier; unter den Opfern war auch Hamas-Gründer Ahmed Jassin.
Die relative Ruhe ab dem Sommer 2005 - unter anderem wegen Israels Rückzugs aus dem Gaza-Streifen - läutete aber keineswegs friedliche Zeiten ein. Bergman schließt mit Geschichten von Tötungsaktionen gegen Vertreter der "Radikalen Front". Hisbollah, Syrien und Iran hält man in sicherheitspolitischen Kreisen für einen Bund, der auch durch gezielte Tötungen zu schwächen ist. Zielpersonen sind Führungspersönlichkeiten der Hisbollah im Libanon und in Syrien. Schließlich tötete der Mossad seit 2007 unter der Führung Meir Dagans im Rahmen seines Kampfes gegen das iranische Nuklearprogramm etliche Wissenschaftler.
Der Autor hält Dagans Beitrag zur Stärkung von Israels Abschreckung gegenüber der "Radikalen Front" für bemerkenswert effektiv. Hier ist die Abschreckung als Ziel der Sicherheitspolitik gemeint, denn die Tötungspraxis zielt nicht nur auf Vergeltung und Rache, sondern soll auch Israels Abschreckungsmacht festigen. Dafür ist freilich Geheimhaltung nötig. So ist die Politik der Zweideutigkeit oder Verschwiegenheit gegenüber der eigenen Öffentlichkeit die andere Seite der Abschreckung. Innenpolitische Debatten über Sinn und Zweck der hinter den Tötungen stehenden Kriegslogik werden mit der Politik der Zweideutigkeit im Keim erstickt. Die Tötungspolitik darf nicht wirklich zum Politikum gemacht werden. Dieser wichtige Aspekt der Entpolitisierung der Sicherheitspolitik geht in Bergmans lesenswerter Fleißarbeit unter. Das Buch ist dennoch ein starkes Zeugnis der entpolitisierten sicherheitspolitischen Kultur. Das zionistische Israel verinnerlichte die diversen Konflikte als ebenso unauflösbar wie hinnehmbar und integrierte sie in seine politische Ordnung - mit all den Konsequenzen für seine Zukunft.
Tamar Amar-Dahl