Dominik Jelschewski: Skulptur, Architektur und Bautechnik des Naumburger Westchors, Regensburg: Friedrich Pustet 2015, 416 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-7917-2600-7, EUR 49,95
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Peter Bömer: Der Westlettner des Naumburger Doms und seine Bildwerke. Form- und funktionsgeschichtliche Studien, Regensburg: Friedrich Pustet 2014, 304 S., 193 Abb., ISBN 978-3-7917-2563-5
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Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
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Dominik Jelschewski und Peter Bömer waren am interdisziplinären Graduiertenkolleg "Naumburg Kolleg" beteiligt, das von 2010 bis 2012 den Naumburger Westchor untersuchte. Es handelte sich um das bisher technisch, personell und finanziell aufwendigste Forschungsvorhaben zum Naumburger Dom, an dem elf Doktorandinnen und Doktoranden beteiligt waren. Jelschewski, der mit den Methoden der historischen Bauforschung den Westchor ohne Westlettner untersuchte, verwendete drei Medien für die Visualisierung seiner Ergebnisse: Computerzeichnung, digitale Fotografie und Streifenlichtscan. Der Streifenlichtscan, mit dem die baugebundenen Stifterfiguren und ihre Umgebung vom Gerüst aus abgetastet wurden, ermöglicht die 3-D-Animation und somit die Ansicht der Skulpturen von allen Seiten - sofern sie der Scanner erreichen konnte. Jelschewski nutzte diese Technologie ausführlich und veranschaulicht Baugefüge und Bildhauerarbeiten in zuvor nicht gekannter Weise. Streifenlichtscans erreichen jedoch nicht die Auflösungsqualität eines Fotos und erscheinen ausschließlich in Grautönen. Defizite in der Oberflächentextur verdeutlichen dokumentarische Schwächen im Vergleich mit einer hochaufgelösten Fotografie, deren Anwendung an mancher Stelle zur Erkenntnis mehr beigetragen hätte.
Der Autor widmet sich Fragen der Bau- und Bildhauerplanung sowie der Ausführung und dem Versatz. In der Architekturanalyse klärt er zum ersten Mal über Steinschnitte und komplizierte konstruktive Strukturen insbesondere in der Verknüpfung von Skulptur und Mauerwerk auf. Anspruchsvolle konstruktive Besonderheiten arbeitet er als Merkmale des Bildhauerarchitekten (Naumburger Meister) heraus. Streiflichtfotos bringen unterschiedliche Oberflächenbearbeitungen der Steinquader zutage und gewähren Einblick in Steinmetz- und Bildhauerwerkstatt, da die Oberflächen des weichen Muschelkalksteins wie in einem Lehrbuch ihre Entstehung offenbaren. Leider fehlt der Hinweis auf Überarbeitungen im 19. Jahrhundert. Die Entbarockisierung des Naumburger Domes im Rahmen einer Restaurierungskampagne von 1874 bis 1878 ging ohne Rücksicht auf Substanzerhalt und originale Oberflächenbearbeitung einher. Insofern wäre eine Abgrenzung der mittelalterlichen Bearbeitungsspuren von jenen des 19. Jahrhunderts notwendig gewesen.
Zur Frage von Steinmetzzeichen der sogenannten Naumburger Werkstatt war der Autor größtenteils auf Fernsicht angewiesen, da die Einrüstung im Inneren des Chors nur bis auf die Standhöhe der Stifterfiguren erfolgte. Damit blieb der größere Teil des Westchors unerreichbar einschließlich Wandflächen, Fenstergewände, Fensterstabwerk, Couronnement und Gewölbe. Jelschewski vertritt die "Stapeltheorie", die besagt, dass der Steinmetz einen Stapel von Werksteinen anfertigte und auf den obersten Stein oder die oberste Steinschicht sein Steinmetzzeichen einschlug und somit die Herstellung aller darunterliegenden Quader beanspruchte. Abgesehen davon, dass keine Quelle zu dieser notgedrungenen These existiert, die zu erklären versucht, dass längst nicht in jeden Stein ein Zeichen eingeschlagen wurde, ignoriert sie einfache Alternativen einer Kenntlichmachung zur Bezahlung, wie beispielsweise das Markieren mit einem Farbpinsel, ebenso wie die Tatsache, dass Steine mit mehreren Zeichen versehen wurden. Unberücksichtigt lässt sie auch den Umstand der Arbeitsteilung. Das Steinmetzzeichen auf der Quaderfläche als Träger eines Pflanzenkapitells kann vom Laubhauer stammen, aber auch vom Steinmetz, der den Stein rechtwinklig zuarbeitete und den Bossen für die Bildhauerarbeit stehen ließ. Wahrscheinlicher als die Stapeltheorie ist daher die Annahme, dass Steinmetze ihre Zeichen als Signaturen hinterließen. Darauf deuten auch eingeschlagene Zeichen in exponierte Sichtflächen von Dekorelementen, die keinesfalls gestapelt werden konnten.
Als Ergebnis exakter Aufnahme der Architektursubstanz präsentiert Jelschewski zehn Zeichnungen zur Bauabfolge des Westchors, die dessen Entstehung nachvollziehen lassen (Tafel 22). Sie verdeutlichen außerdem die bauliche Situation eines den Vorgängerbau umgebenden Neubaus. Erst nach dessen Fertigstellung wurden die alten Bauteile - hier die frühromanischen Westtürme - abgetragen. Bemerkenswert ist, dass innerhalb der zehn Bauabfolgeschritte erst im achten das Versetzen der Stifterfiguren gekennzeichnet wird. Daraus ergibt sich, dass sie nicht zwingend zu einem frühen Zeitpunkt der Errichtung des Westchors bereits fertiggestellt worden sein mussten.
Anschaulich vermittelt der Autor die konstruktive Einbindung der Stifterfiguren in den Wandaufbau und beweist, dass sie nicht appliziert worden sein konnten. So legt er in zwölf Zeichnungen Schritt für Schritt das Versetzen der Stifterfiguren "Ekkehard und Uta" in einer Weise dar, die eine Vorstellung vom mittelalterlichen Baubetrieb am Westchor geben kann (Tafel 33). Daneben bemüht sich Jelschewski, die Entstehung der Skulpturen zu erklären, vermag jedoch fehlendes Wissen zur Bildhauertechnik nicht an jeder Stelle durch Befundanalysen zu kompensieren. So bezweifelt er den Sinn eines rechteckig vorbereiteten Grundblocks für den Entwurfsprozess. Er vermutet stattdessen für die entsprechenden Bereiche eine grobe Bossierung der Oberfläche mit dem Spitzeisen und staunt über die Verwendung der Zahnfläche durch die Bildhauer (218). Im bildhauerischen Werkprozess muss jedoch das Zuarbeiten des Bildhauerblocks stets akkurat vorgenommen werden, da alle Arbeiten die darauffolgenden Schritte vorbereiten und auch jene Flächen exakt zu bearbeiten sind, die später in ihrer Orthogonalität nicht mehr benötigt werden. Über den gesamten Block verlaufende Kanten komplett abzuschlagen, ist ein normaler Vorgang in der Herstellung einer Skulptur.
Jelschewski erwähnt den Diskurs um die Verwendung von Modellen in der mittelalterlichen Bildhauerei und das Verfahren der Entwurfszeichnung auf dem Bildhauerblock, von ihm "verlorene Zeichnung" genannt. Er lehnt dieses Verfahren für Naumburg strikt ab. Stattdessen sieht er Modelle im Einsatz. Es sind jedoch im Gegensatz zu Musterbuchzeichnungen, die als Vorlage für Bildhauerarbeiten gedient haben, keine mittelalterlichen Bildhauermodelle nachgewiesen. Bekannt sind sie erst aus der Renaissance, als die antike Technik der maßstabsgerechten Übertragung Anwendung fand. Jelschewski ist sich sicher, dass die auf den Bildhauerblock aufgetragene Skizzierung der Formen für die Naumburger Skulpturen nicht geeignet gewesen sei, da sie lediglich für "einfach strukturierte Skulpturen und Reliefdarstellungen" Geltung erlangt hätte (240). Er führt begründend aus, dass wegen des Abkantens des Grundblocks nur ein schmaler Streifen der Zeichnung auf den Block hätte übertragen werden können. Doch ist das Auftragen einer bildhauerischen Skizze selbstverständlich auch auf einer nicht ebenen oder polygonen Fläche möglich. Seine Überlegungen, dies auszuschließen, sind von zu schematischem Denken gekennzeichnet. Vom Auftrag der Zeichnung auf den Grundblock zum bildhauerischen Werkprozess besteht ein fließender Übergang, der eine weitgehend freie künstlerische Arbeit nach Vorlagen aus Musterbüchern darstellt.
Das Buch stellt zweifellos eine der wichtigsten Publikationen der letzten Jahre zum Naumburger Westchor dar. Eine stärkere Konzentration auf historische Bauforschung und Architekturanalyse hätten ihm ein Alleinstellungsmerkmal verliehen. Einige selbstgesetzte Ansprüche auf anderen Feldern konnten nicht durchweg erreicht werden. Im Bereich der historischen Bauforschung setzt die Publikation nichtsdestotrotz Maßstäbe, die weit in die Zukunft Geltung beanspruchen dürften.
Peter Bömer rezensierte vor der Mitarbeit im "Naumburg Kolleg" Aufsätze und Dissertation von Jacqueline Jung zum Naumburger Westlettner. [1] In Abgrenzung zu den Thesen Jungs bezog Bömer jene Position, die eine weitere Dissertation unter anderen methodischen Ansätzen rechtfertigte. Neben der Frage nach der Funktion des Westlettners, steht für ihn die Datierung in die Vierzigerjahre des 13. Jahrhunderts im Vordergrund. Bömer folgt der Frühdatierung der Reimser Westfassade, um seine Datierung des Naumburger Westlettners zu begründen. Insbesondere in den dichtgestaffelten Figurengruppen der Türstürze über den Reimser Westportalen sieht er Vorbilder für die Naumburger Lettnerskulptur. Die Schwierigkeit, die Naumburger Bildhauerkunst zu jener der Reimser Kathedrale in Beziehung zu setzen, besteht in deren umstrittenen Datierung. Bömer stellt fest, die Einordnung der frühgotischen Skulptur im deutschsprachigen Raum im Verhältnis zur Reimser Skulptur werfe das Problem auf, dass die Datierungsansätze zu Reims fast bis zu einem halben Jahrhundert auseinanderklafften (45).
Aufschlussreich ist die kunsthistorische Einordnung hinsichtlich der Einbeziehung nicht nur mitteldeutscher Lettner einschließlich des Mainzer Westlettners, sondern auch der französischen, englischen und italienischen Lettner. Darauf aufbauend liefert Bömer eine neue, auf Naumburg bezogene Betrachtung mittelalterlicher Lettner. Gerade die Verknüpfung mit englischen Lettneranlagen ist das Verdienst der Arbeit Bömers. Steht doch die Intensität des Wissenstransfers zwischen dem Kontinent und England der zwischen Deutschland und Frankreich in keiner Weise nach. Welche Formenverwandtschaften in den aus französischer und deutscher Sicht zum Teil unkonventionellen Architekturlösungen und Ornamentcharakterisierungen bestehen, verdeutlichen auch Binnenarchitekturen, wie die innere Westfassade der Kathedrale von Wells. Zuzüglich erzielten die Quellenforschungen Hinweise auf Zyklen dynastischer Repräsentationsbilder oder Reihen von Nischenfiguren mit Inschriften ("Rites of Durham"), die im Hinblick auf den Naumburger Stifterzyklus von Interesse sind (99).
Vor dem Hintergrund der eindringlichen Bildersprache an der Schauseite des Westlettners nahm man bisher die in das Langhaus gerichtete Botschaft von der Lettnerbühne aus an. Bömer kommt hingegen zu dem Schluss, dass "Lesungen oder geistliche Schauspiele primär dem im Chor versammelten Klerus gegolten haben" (260). Der Autor begründet diese These mit den jeweiligen baulichen Situationen, beziehungsweise den Altarpositionen auf den Lettnerbühnen. Er stellt fest, bei den von Bildwerken am Westlettner angesprochenen Betrachtern hätte es sich um jene gehandelt, die in den Westchor einzogen (254) und nicht um jene, die sich im Langhaus aufhielten und den Westchor vielleicht gar nicht betreten durften. Hier stellt sich die Frage, ob nicht auch eigene, von den Handlungen im Westchor und dem feierlichen Einzug unabhängige Szenerien denkbar wären, in denen einem Publikum im Langhaus von der Lettnerbühne herab Botschaften oder Urteile verkündet wurden. Beispielsweise im Kontext von Rechtshandlungen.
Peter Bömer liefert einen wichtigen Beitrag zum kunst- und funktionsgeschichtlichen Verständnis des Naumburger Westlettners, der zukünftig in die Forschungen einbezogen werden muss. Mit der Herleitung einer Leserichtung in die Chöre ist ihm ein neuer Ansatz gelungen. Er bietet eine Hilfestellung im Hinblick auf liturgische Bedingungen im Mittelalter, deren Erforschung in Naumburg noch am Anfang steht.
Anmerkung:
[1] Jacqueline Jung: The West Choir Screen of Naumburg Cathedral and the Formation of Social and Sacred Space, Diss. Columbia University 2002, publiziert unter dem Titel The Gothic Screen. Space, Sculpture and Community in the Cathedrals of France and Germany, ca. 1200-1400, Cambridge 2013; Peter Bömer: Der Westlettner des Naumburger Doms. Interpretationen auf dem Prüfstand. Kritische Anmerkungen zu den Beiträgen von Jacqueline E. Jung, in: Neues Archiv für sächsische Geschichte 81 (2010), 191-204.
Guido Siebert