Márkus Keller: Experten und Beamte. Die Professionalisierung der Lehrer höherer Schulen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts - Ungarn und Preußen im Vergleich (= Studien zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Ostmitteleuropas; Bd. 24), Wiesbaden: Harrassowitz 2015, 276 S., ISBN 978-3-447-10519-4, EUR 54,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
Die Entwicklung des preußischen Schulwesens gilt als beispielhaft. Die Einführung der allgemeinen Schulpflicht 1717 sowie die unter Wilhelm von Humboldt eingeleitete neuhumanistische Bildungsreform stehen für die Innovationskraft des preußischen Staates im Bildungsbereich. Während die preußischen Entwicklungen immer wieder als Vergleiche für die deutschen Staaten herangezogen wurden, sind Vergleichsstudien zum höheren Schulwesen in den Staaten Ostmitteleuropas selten. Insofern nimmt sich Márkus Keller eines Desiderates der historischen Bildungsforschung an.
Im ersten Teil der Studie wird eine theoretische und begriffliche Einordnung der Professionalisierung von Lehrern im 19. Jahrhundert vorgenommen. Auf dieser Grundlage untersucht der Autor "den Prozess der Formierung des notwendigen professionsspezifischen Wissens" (24) sowie die daraus ableitbaren Abwehrmechanismen gegen Interventionen. Darüber hinaus wird analysiert, wie es den Lehrern an höheren Schulen in Ungarn und Preußen gelang, ihre Autonomie und ihre berufliche Monopolstellung zu wahren. Insgesamt geht es dem Autor um die mitteleuropäische Kontextualisierung der ungarischen Bildungsgeschichte des 19. Jahrhunderts.
Ausgehend von der Modernisierungstheorie, den Differenzierungen des ungarischen "Intelligenz"-Begriffs und der deutschen historischen Forschung zum Bildungsbürgertum untersucht Keller für den Professionalisierungsprozess wichtige Berufs- und Gesellschaftsbereiche. Zahlreiche Parallelen kann er zwischen der Entwicklung der ungarischen und der preußischen höheren Lehrerschaft herausarbeiten: so die Differenzierung in reale und humanistische Bildung, die Spezialisierungen der höheren Lehrerbildung und der damit einhergehenden Trennung von der Theologie.
Im zweiten Teil der Studie erarbeitet der Autor das Selbstbild der höheren Lehrerschaft. Dieser sei es in beiden Ländern gelungen, ein Ideal des gebildeten Bürgers gesellschaftlich zu etablieren. Den Unterschied erkennt Keller vornehmlich in der Wahrnehmung der Differenz zwischen Ideal und Wirklichkeit, wobei die höheren Lehrer in Ungarn unter der Diskrepanz weniger litten.
Das letzte Kapitel ist den grundsätzlichen Fragen nach dem Verhältnis der höheren Lehrerschaft zum Staat gewidmet. Hierbei wird auf die Fragen der Lehrerbildung, des Curriculums, der professionsspezifischen Autonomie sowie der beamtenrechtlichen und gesetzlichen Rahmenbedingungen eingegangen. Die wesentlichen Unterschiede resultierten hier aus den unterschiedlich starken Einflüssen der Kirchen auf die inhaltlichen und strukturellen Angelegenheiten des höheren Schulwesens.
Ungeachtet des innovativen Ansatzes der Vergleichsstudie bleiben die Untersuchungsbereiche Ungarn und Preußen über weite Strecken unverbunden nebeneinander stehen. Den Fragen eines unmittelbaren Einflusses der preußischen Entwicklungen auf Ungarn oder eventuellen personellen Verbindungslinien wird nicht nachgegangen. Darüber hinaus hält der Autor an einigen nationalen Stereotypen fest. So wird im preußischen höheren Schulwesen ein nationales deutsches Schulwesen gesehen, ohne die spezifischen Entwicklungen der anderen deutschen Staaten im Blick zu behalten. Gleichzeitig werden dem "Organisationsentwurf" von 1849 grundsätzliche Germanisierungstendenzen unterstellt. Dabei hätte es hier die Möglichkeit gegeben, die mitteleuropäische Dimension des von Hermann Bonitz und Franz Exner entworfenen achtklassigen Gymnasiums im Hinblick auf Ungarn näher zu beleuchten. Für die Anschaulichkeit der Darstellung wäre es außerdem von Vorteil gewesen, wenn beschriebene Teilfragen an Personen oder Strukturen konkretisiert worden wären. Irritierend ist ferner, dass die neuhumanistische Bildungsreform in Preußen mit Alexander von Humboldt in Verbindung gebracht wird.
Ungeachtet dieser Einwände legt Keller eine theoretisch tief durchdrungene, inhaltlich versierte und gut lesbare Vergleichsstudie vor. Sie bietet eine gute Grundlage für weitere komparative Arbeiten zum höheren Schulwesen zwischen den Ländern Mittel- und Ostmitteleuropas.
Jonas Flöter