Barbara Hanke (Hg.): Zugänge zur deutschen Zeitgeschichte (1945-1970). Geschichte - Erinnerung - Unterricht (= Starter Geschichte), Schwalbach: Wochenschau-Verlag 2017, 218 S., ISBN 978-3-7344-0495-5, EUR 15,80
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Erinnerung, Geschichte und Unterricht - das sind die konzeptionellen Leitbegriffe, die das Auswahlprinzip des vorliegenden Sammelbandes zur deutschen Zeitgeschichte aus der Feder führender Vertreter der Geschichtsdidaktik bestimmen. Gemäß der Vorgaben des "Starter Geschichte" genannten Reihenwerkes des Verlags, das sich an Lehramtsstudierende, im Referendariat befindliche, aber auch an etablierte Lehrkräfte richtet, versammelt das mit einer instruktiven, überblicksartigen Einleitung von Barbara Hanke ausgestattete Handbuch zwölf Aufsätze, die sich mit einem prägenden Abschnitt der deutsch-deutschen Geschichte beschäftigen: den gut zwanzig Jahren zwischen dem staatlichen Neuaufbau nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges bis zur ersten Großen Koalition unter Bundeskanzler Kiesinger. Thematisch lassen sich die Beiträge den drei im Titel angeführten, segmentierenden Schlagworten zuordnen.
Christian Kohler (Die Stunde Null), Bernd-Stefan Grewe (Planwirtschaft und Wirtschaftswunder), Hannes Liebrandt (Politik und Gesellschaft 1961-1970) sowie Julia Paulus (Geschlechterverhältnisse im deutsch-deutschen Vergleich) nehmen in Form eines Brückenschlages zwischen Fachwissenschaft und Didaktik Fragen der zeitgeschichtlichen Forschung in den Fokus. Mit der Erinnerungs- und Geschichtskultur setzen sich die Aufsätze von Barbara Hanke (die Rolle der Frau in Filmen über die Nachkriegszeit), von Markus Furrer (Gedenkjahre und Jubiläen), von Holger Thünemann (Eichmann in Jerusalem), von Christina Brüning (Inszenierungen von Zeug_innenschaft) sowie von Bernhard Schoßig (Gedenkstätten für die NS-Opfer) auseinander. Und schließlich findet auch die Unterrichtspraxis mit drei Quellengenres ihre Berücksichtigung: mit dem Typus der historischen Rede im Geschichtsunterricht (Ulrich Baumgärtner), mit Tageszeitungen als historische Quelle (Christian Kuchler) sowie mit dem Popsong der Beatles "A Day in the Life" (Markus Bernhardt) als Manifestation des Zeitgeistes der 1960er Jahre.
Misst man das Spektrum dieser Beiträge am Kriterium der zeitgeschichtlichen Relevanz der behandelten Themen sowie an ihrer Adressatenorientierung, so ergibt sich ein zwiespältiges Bild. Von den großen, Politik und Gesellschaft bewegenden Komplexen des in Rede stehenden Zeitabschnittes sind wichtige Facetten nicht abgedeckt. So fehlt die fundamentale Weichenstellung zur Westintegration in der Ära Adenauer ebenso wie die Inkorporation der DDR in den Warschauer Pakt. Damit in engem Zusammenhang steht die Debatte um die Neutralisierung Gesamtdeutschlands als Brücke zwischen den sich ausformenden Allianzblöcken in Ost und West, wie sie sich in Form der sogenannten "Stalin-Noten" von 1952 oder auch der Wiederbewaffnungsdiskussion artikulierte, was jedoch ebenfalls keine Berücksichtigung findet. Hinzu kommt, dass auch - um noch einen letzten Bereich zu erwähnen - die auf der sogenannten "Magnettheorie" und "Hallstein-Doktrin" fußende Abschottungspolitik der Bundesrepublik gegenüber der DDR keine gebührende Aufmerksamkeit erfährt, obschon sich doch gerade in diesem Zeitabschnitt mit Egon Bahrs berühmter Tutzinger Rede ("Wandel durch Annäherung") von 1963 und den ersten zarten Pflänzchen der Annäherungspolitik in der Zeit der Großen Koalition eine grundsätzliche Abkehr von den Rezepten Adenauers ankündigte. Gerade dieser konzeptionelle Neuansatz bildete dann unter Willy Brandt und Walter Scheel die entscheidende Voraussetzung für den Wiedervereinigungsprozess von 1989.
Sicherlich kann man über die Auswahl und die Bedeutung einzelner Themenbereiche für das Curriculum der Zeitgeschichte geteilter Meinung sein. Aber die genannten und hier nicht in den analytischen Fokus gerückten Entscheidungen prägen bis heute nachhaltig den zeitgeschichtlichen Unterricht und bilden die Basis für das gegenwärtige Selbstverständnis von Staat und Gesellschaft. Mit dieser subjektiven und selektiven Auswahl der Schwerpunkte korrespondiert es, dass die im Buch gesetzten Zäsuren willkürlich erscheinen. So ist der Epochenbruch von 1945 zwar augenfällig und bedarf keiner näheren Erläuterung. Das Jahr 1970 aber als Einschnitt und Endpunkt zu wählen, kann weder in der Einleitung zureichend begründet werden noch erscheint dies von der Sache her gerechtfertigt. In diesen Jahren ist die Inkubationszeit der "Ostpolitik" zu verorten, die, seit der Kubakrise und dem Vietnamkrieg, die adäquate Reaktion auf die beginnende "Détente" darstellte und die dem sich beschleunigenden gesellschaftlichen Wandel im Innern Rechnung trug.
Nicht ohne Makel zeigt sich der Band auch, wenn man die Erwartungen und Interessen des Zielpublikums zum Gradmesser macht. Schulpraktiker und Studierende wollen klare Fragestellungen, präzise Ergebnisse, eine stringente Analyse, statt weitschweifiger Deskription, griffige Thesen sowie handhabbare Erkenntnisse und Vorschläge, die im Unterricht darstellbar sind, die den Horizont erweitern und zur Reflexion anstoßen. Dieser Brückenbau zwischen Wissenschaft und Praxis gelingt vorbildlich und überzeugend in den Beiträgen von Baumgärtner, Kuchler, Grewe, Hanke, Furrer und Thünemann. In nahezu allen anderen der hier versammelten Aufsätzen gelingt er nicht. Pars pro toto sei auf einige Beispiele verwiesen.
Grewes Beitrag löst die gestellten Anforderungen mustergültig ein. Kenntnisreich entmythologisiert er das "Wirtschaftswunder" der 1950er Jahre, stellt die kontrastiven Modelle von Marktwirtschaft im Westen und Planwirtschaft im Osten strukturell präzise gegenüber und leitet aus diesem eklatanten Wohlstandsgefälle das unterschiedliche Integrationspotential der beiden konkurrierenden Gesellschaftsmodelle auf deutschem Boden ab. Ebenso stringent argumentiert Baumgärtner, wenn er den Topos der historischen Rede exemplarisch im situativen Bezug und appellativen Charakter ausleuchtet, dessen Gattungsvielfalt typologisch seziert, für den Unterricht valide Analysekriterien entwickelt und diese Überlegungen an drei aussagekräftigen Beispielen belegt.
Demgegenüber fallen andere Teile des Bandes deutlich ab. So folgt der Beitrag von Liebrandt weder einem analytisch stringenten, heuristisch ergiebigen Raster noch markiert er die Forschungsdiskussion, bleibt mithin ganz auf der rein deskriptiven Ebene eines überblicksartigen Schulbuchtextes stehen. Ähnliches gilt für das so wichtige Thema der NS-Gedenkstätten, das nicht nur den gesellschaftlichen Erinnerungs- und Wertediskurs beherrscht, sondern auch ein fester Bestandteil jedes zeitgeschichtlichen Unterrichts ist. Der hier gebotene Beitrag liefert kein didaktisches Profil dieses besonderen historischen Ortes, er stellt keine Argumente vor, wie das Grauen und die Pietät solcher Stätten methodisch angemessen in die Praxis des Unterrichts überführt werden können, und er nimmt die breite fachwissenschaftliche Forschung zu dieser Thematik nicht einmal ansatzweise zur Kenntnis.
Insgesamt ergibt sich somit ein ambivalenter Eindruck des Bandes. Einerseits stellt er ohne Zweifel ein wichtiges und gewinnbringendes Kompendium für den intendierten Adressatenkreis dar, indem er einen Abschnitt der deutschen Zeitgeschichte didaktisch konturiert und auf wichtigen Feldern inhaltlich durchreflektiert und wissenschaftlich adäquat erfasst. Andererseits steht zu hoffen, dass etwaige Folgebände eine fachwissenschaftlich angemessenere Auswahl der behandelten Themenfelder treffen werden und dass sich kein ähnlich eminent ins Auge springendes analytisches Differenzgefälle zwischen den einzelnen Beiträgen ergibt, wie dies für den vorliegenden Band zu konstatieren ist.
Rainer F. Schmidt